Süddeutsche Zeitung

Munich Economic Debates:"Wir können nicht alles abklemmen"

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Die Abhängigkeit von russischem Gas, Öl und Kohle wird zum Stresstest für deutsche Energieversorger. RWE-Vorständin Zvezdana Seeger sieht die Lösung in einer beschleunigten Energiewende, nicht im Wiederbeleben der Atomkraft.

Von Silvia Liebrich , München

Worauf kommt es an bei der grünen Energiewende, und welche Rolle spielt dabei die Digitalisierung? Das sollte am Montag das Thema der Münchner Seminare sein, doch es wurde in den Hintergrund gedrängt von der aktuell viel drängenderen Frage, wie Deutschland seine Energieversorgung sichern kann und ob ein völliger Verzicht auf russisches Gas und Öl tatsächlich verkraftbar wäre. RWE-Vorstandsmitglied Zvezdana Seeger, Gast der Veranstaltung von Ifo-Institut und Süddeutscher Zeitung, hatte darauf eine klare Antwort: "Wir können nicht alles abklemmen", sagt sie, nicht nur für private Haushalte, sondern auch die Industrie wäre ein sofortiger Stopp der Lieferungen aus Russland schwer verkraftbar. Schließlich sei keinem damit geholfen, wenn alle Lichter ausgingen.

Für die RWE-Frau weckt der Überfall Russlands ungute Erinnerungen. Sie selbst stammt aus dem früheren Jugoslawien, wie sie erzählt. Der Zerfall des Staates mündete in den Neunzigerjahren unter anderem in den Bosnien-Krieg, der mindestens 100 000 Todesopfer forderte. Sie habe nie geglaubt, dass dergleichen in Europa noch einmal möglich sei, sagt sie. Sie sieht in der sich verändernden Weltordnung auch eine Bedrohung für kritische Infrastrukturen wie Energienetze und warnt vor dem wachsenden Risiko von Cyberkriegen.

Seeger versucht zugleich, die Ängste vieler Menschen etwas zu dämpfen. Die deutschen Versorger würden derzeit gemeinsam an Lösungen arbeiten, versichert sie. "Wir sollten uns aktuell keine Sorgen machen, dass wir nächsten Winter frieren, aber wir sollten jetzt sehr schnell sein, mit allem, was wir tun". Die RWE-Managerin spielt damit auch auf den Plan der Bundesregierung an, die Energiewende zu beschleunigen und schon bis 2030 unabhängig von fossilen Brennstoffen zu sein.

"Das wird eine Operation am offenen Herzen."

Der Krieg in der Ukraine verändert Seeger zufolge die geopolitische Lage dramatisch, nötig sei nun eine neue Debatte zur Versorgungssicherheit. Deutschland müsse all seine Kräfte in den Ausbau erneuerbaren Energien, Wasserstoff, Klimaschutz und eine unabhängige Versorgung stecken. "Das ist wie eine Operation am offenen Herzen". Viele Dinge müssten nun gleichzeitig geschehen, betont Seeger, die im RWE-Vorstand für Personal und IT zuständig ist.

Den Forderungen von verschiedenen Seiten, den geplanten Atomausstieg aufzuschieben, erteilte sie eine Absage: "einfach weiterlaufen lassen, das geht nicht. Wenn erst mal auf einen Ausstieg hingearbeitet wurde, lässt sich das nicht einfach aufhalten". Der Betrieb müsste erst mühsam reaktiviert werden. Und das könnte Jahre dauern. Seeger verwies darauf, es fehle nicht nur an Brennstäben und geschultem Personal, sondern auch an Kapazitäten für regelmäßigen Wartungen, an Sicherheitsvorkehrungen und den nötigen Genehmigungen.

Das viele Geld, das für eine Reaktivierung der Kernenergie nötig ist, sieht Seeger an anderer Stelle sinnvoller eingesetzt. "Der Ukraine-Krieg zeigt, dass Deutschland unabhängiger von einzelnen Lieferanten werden muss". Außerdem sei eine höhere Diversität bei den Energiequellen wichtig. Allein der RWE-Konzern investiert nach eigenen Angaben bis 2030 gut 50 Milliarden Euro in grüne Energie. "Bei Windkraftanlagen wollen wir jedes verfügbare Projekt umsetzen, und wir sind nicht wählerisch. Wir brauchen Geschwindigkeit und Chancen." Gelingen werde der schnelle Ausbau von Wind- und Solarenergie nur dann, wenn der Staat die Grundlagen für beschleunigte Genehmigungsverfahren schaffe.

Einen entscheidenden Faktor für den Umbau des Energiemarktes sieht die RWE-Managerin in der Digitalisierung, alle Versorger müssten eingebunden werden, "keiner darf am Ende allein dastehen". Nur so gelinge es in Zukunft, Angebot und Nachfrage in Einklang zu bringen und Kapazitäten und Spitzenlasten im Energienetz auszugleichen. "Wir brauchen neue Lösungen, schnell, pragmatisch und effizient, und keine Schwergewichtslösungen mehr", betont die Vorständin.

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