Süddeutsche Zeitung

Digitalisierung:Deutschland braucht einen Ruck gegen das Ruckeln

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Die Bundesregierung hat sich eine Digitalstrategie ausgedacht. Ja, richtig, im Jahr 2022. Zwar könnte sie ausreichen, um den riesigen Rückstand aufzuholen. Aber Aufbruch sieht anders aus.

Kommentar von Christoph Koopmann

Beim Blick in die Nachrichten hätte man in dieser Woche denken können, man sei ins Jahr 2002 zeitgereist: Deutschland hat eine neue Digitalstrategie. Aber von wegen Zeitreise, das sind Nachrichten aus 2022, und dass Deutschland da ein Programm für Digitalisierung bekommt, sagt eigentlich schon einiges. Um fair zu bleiben: So oder so ähnlich waren bereits Agenden vorangegangener Bundesregierungen überschrieben.

Aber wie viel die gebracht haben, lässt sich mit ein paar Zahlen veranschaulichen: Laut Daten der EU-Kommission sind hierzulande 15 Prozent der Haushalte mit Glasfaserleitungen für superschnelles Netz versorgt. In Bulgarien sind es 85 Prozent. Dafür will Deutschland seinen Bürgerinnen und Bürgern wenigstens Behördengänge erleichtern beziehungsweise ersparen, indem man sie digital und per Mausklick anbietet. Bis Ende dieses Jahres sollen 575 Verwaltungsvorgänge digitalisiert werden, die aus 6000 Einzelleistungen bestehen, Kfz-Ummeldungen, Kindergeldanträge, solche Sachen. Die Bundesregierung geht mittlerweile davon aus, dass bis Jahresende höchstens 50 geschafft sein werden. Die elektronische Patientenakte wiederum kam schon vergangenes Jahr. Bisher nutzen sie gerade mal 0,5 von 73 Millionen Versicherten.

Das also ist grob der Stand der Digitalisierung in Deutschland 2022. Unbedingt nötig, dass die Ampelkoalition etwas machen will. Es ist ja nicht ihre Schuld, zumindest nicht die Schuld aller beteiligten Parteien, zumal in dieser Zusammensetzung, dass es vorher nicht ganz in Glasfasergeschwindigkeit vorangegangen ist. Es muss ein Ruck durch Deutschland gehen, damit es nicht mehr so ruckelt. Mit dem Anspruch ist die Ampel ja auch angetreten: "Mehr Fortschritt wagen", ergo Aufbruch, Zukunft, auch und vor allem digital.

Aber dieser Weg, das zeigen die Zahlen oben, wird kein leichter sein. Es hilft auch nicht wirklich, dass es seit Regierungsantritt allein schon neun Monate gedauert hat, auch nur die Strategie dafür vorzulegen. Dafür hat sie Volker Wissing (FDP), Verkehrs- und eher nebenberuflich auch Digitalminister, in dieser Woche mit großen Worten präsentiert: Sie sei "Garant für mehr digitalen Fortschritt in unserem Land". Es steht ja wirklich Wichtiges und Richtiges drin: Die Hälfte aller Haushalte und Unternehmen soll mit Glasfaseranschlüssen versorgt werden. Mobilfunk soll es an jeder Milchkanne geben. Die Verwaltung soll jetzt aber wirklich digitalisiert werden. Die digitale Patientenakte sollen 80 Prozent der Versicherten haben. Die Cybersicherheit soll verbessert werden.

Die Ampelkoalition muss das Land erst mal in die Gegenwart schleppen

Wer aber von Deutschland aus zum Beispiel nach Estland blickt, könnte beinahe heulen. Klar, die Voraussetzungen sind dort zwar andere, aber der Vorsprung ist in so ziemlich jeder Hinsicht unentschuldbar riesig. Die Ziele der deutschen Digitalstrategie? Hat Estland größtenteils schon längst erfüllt. Was Wissing präsentiert hat, ist nice to have, aber weitestgehend Vergangenheitsbewältigung. SPD, Grüne und FDP müssen das Land erst mal in die Gegenwart schleppen, um es irgendwann in die Zukunft zu schaffen.

Das dauert, ja, aber etwas mehr Ambitionen hätte man schon erwarten können. Das Großvorhaben Glasfaserausbau ist terminiert für Ende der Legislaturperiode, also 2025, auch flächendeckenden Mobilfunk sollen wir bis "möglichst 2026" haben. Grüße gehen raus an alle auf dem Land, die auch in näherer Zukunft im Home-Office gern mal ihre Mails abrufen würden. Für die Entpapierisierung der Behördengänge verlängert die Ampel auch in erster Linie mal die Frist. Während für diese Vorhaben immerhin klare, nachprüfbare Zielmarken gesetzt sind, bleibt das 52-Seiten-Papier bei anderen aber sehr vage: "Wir wollen uns 2025 daran messen lassen, ob wir dazu beigetragen haben, digitale Gräben zu überwinden und Teilhabe durch digitale Beteiligung zu ermöglichen." Gut, aber wie?

Deutschland steht im EU-Index für die Digitalisierung von Wirtschaft und Gesellschaft übrigens auf Platz 13 der 27 Mitgliedsstaaten. Minister Wissing hat nun angekündigt: Deutschland will es in die Top Ten schaffen. Bis 2025. So viel zu den Ambitionen der größten Volkswirtschaft Europas.

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