Süddeutsche Zeitung

Munich Economic Debates:Bitte das Hirn anschalten

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Corona, Klimawandel, Krieg: Die Digitalisierung kann helfen, auf die vielen Krisen dieser Zeit zu reagieren, sagt Telekom-Managerin Claudia Nemat. Doch ohne die nötige Haltung nützt das nichts.

Von Benedikt Müller-Arnold, Köln

Vom " World Wide Web" spricht heute kaum noch jemand; die Abkürzung WWW kann weglassen, wer Webseiten aufruft. Und doch bleibt die Idee: eines einzigen Internets, in dem sich Menschen virtuell begegnen können über alle Grenzen hinweg, in dem man Waren international einkaufen kann.

Claudia Nemat aber sorgt sich um die Zukunft dieses "einen" Netzes, und das liegt auch am Angriff Russlands auf die Ukraine: "Wir sehen, dass sich die Systemrivalität zwischen den Vereinigten Staaten und China verschärft", konstatierte das Vorstandsmitglied der Deutschen Telekom nun im Rahmen der Munich Economic Debates, einer Veranstaltungsreihe des Ifo-Instituts und der SZ.

Die Welt drohe in zwei "Technosphären" zu zerfallen, wie Nemat das nennt: einerseits eine amerikanisch-europäische mit Riesen wie Apple oder Microsoft, andererseits eine chinesisch dominierte mit Konzernen wie Huawei oder Tencent; zu letzterer würde die Managerin denn auch Russland zählen.

"Für globale Standards wäre das gar nicht so gut", mahnt Nemat über diese Zweiteilung. So könnte die nächste Mobilfunk-Generation 6G im Westen dann anderen Standards unterliegen als im Osten; und bereits heute dominieren unterschiedliche Handels- und Bezahlplattformen die jeweiligen Sphären. "Es wird dann bestimmt alles viel langsamer gehen und auch teurer werden", sagt die 53-Jährige. Denn natürlich lebt die Welt der Mobiltelefone, Computerchips und Programmierung bislang von internationalen Lieferketten, euphemistisch beschrieben: von Arbeitsteilung.

Die Pandemie war eine Belastungsprobe für Telekommunikationsnetze

Nemat ist, so sagt sie selbst, der "Techie" im Vorstand der Telekom: Die Physikerin und einstige Universitätsdozentin hatte lang für das Beratungsunternehmen McKinsey gearbeitet, bevor sie im Jahr 2011 zur Telekom wechselte. Zeichnete Nemat dort zunächst für die europäischen Auslandsgeschäfte von Polen bis Griechenland verantwortlich, übernahm sie vor fünf Jahren die Zuständigkeit für Technologie und Innovation.

Und das nun zu einer Zeit, da Russlands Krieg andere Krisen fast verdeckt: den Klimawandel etwa oder die Corona-Krise. Doch Nemat argumentiert, dass gerade digitale Technologien helfen, in Krisen resilient zu bleiben, also: anpassungsfähig, widerstandsfähig.

"Ohne die Digitalisierung hätten wir die Folgen der Corona-Pandemie sehr viel schlechter gemeistert", sagt die Managerin und erinnert an Videokonferenzen im Privaten oder Beruflichen, deren Zahl binnen weniger Tage um 300 Prozent gestiegen sei. Trotzdem seien die Netze im Großen und Ganzen stabil geblieben.

Nemat führt das vor allem darauf zurück, dass Betreiber wie die Telekom noch gerade rechtzeitig in die Digitalisierung der Netze investiert hatten: etwa in die Umstellung alter DSL- und ISDN-Anschlüsse und des analogen Sprachtelefons auf das Internet-Protokoll (IP). Das sei die Voraussetzung dafür, dass Kunden mit entsprechenden Verträgen schneller in höhere Bandbreiten wechseln können - und Konzerne wie die Telekom früher sehen, was in ihrem Netz geschieht.

Firmen kommen gut durch Krisen, wenn sie das Hirn-Anschalten von vielen ermöglichen

Doch Digitalisierung allein schafft noch keine Resilienz. Das hat die Telekom beispielsweise vorigen Sommer gespürt, als das Hochwasser im Westen Deutschlands Telefonleitungen und Verteilerkästen beschädigte und Mobilfunk-Antennen tagelang keinen Strom mehr hatten. Da kam es vielmehr auf Hunderte Menschen an, die das Netz nach und nach wiederaufgebaut haben: den Handy-Empfang zuerst, das Festnetz anschließend.

Nemat sieht darin den Ausdruck einer "vielleicht etwas altmodischen" Tugend, des Pflichtbewusstseins, das sie freilich nicht falsch verstanden wissen will: "Pflichtbewusstsein heißt nicht, dass ich annehme, ich sei so toll oder mache alles perfekt." In einer Phase voller Krisen komme es vielmehr darauf an, zu antizipieren, wie sich das Verhalten der Menschen entwickelt. "Was als legitim angesehen wird, ändert sich im Laufe der Zeiten", mahnt die Managerin.

Unternehmen kämen dann gut durch Krisen, wenn sie das Hirn-Anschalten von vielen ermöglichen. "Die Zeit der allwissenden Manager, die so das Heldenmodell verkörpern, ist eigentlich zum Tode verurteilt", schlussfolgert Nemat. Während sich manche Menschen in Krisen nach einem starken Entscheidungsträger sehnen, spitzt die Telekom-Managerin genau gegenteilig zu: "Der männliche, allwissende Held ist jetzt mal langsam tot."

Die Digitalisierung könne Führungskräften - gepaart mit der richtigen Haltung - jedenfalls helfen, schneller und flexibler auf Krisen zu reagieren. Doch klar bleibt auch: "Digitale Technologien schaffen überhaupt keinen Frieden in der Welt", sagt Nemat, "das ist unsere Aufgabe."

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