Süddeutsche Zeitung

Editorial:Spannend wie fast nie

Lesezeit: 3 min

Es gibt keine Disziplin, die so vermessen ist wie die Formel 1. Doch kein Lineal taugt, um zu bewerten, worauf es wirklich ankommt: Die Geschichte, die der Sport erzählt. Beim Finale zwischen Hamilton und Verstappen ist sie womöglich filmreif.

Von Philipp Schneider, Abu Dhabi

Schon klar: Die Formel 1 ist laut, stinkt und nervt. Außerdem ist sie aus der Zeit gefallen, wie es so schön heißt, weil sie doch Automobile zur Schau stellt, die CO2 ausspeien und damit das Klima erwärmen. Aber gerade hat die Formel 1 nach einer ohnehin schon irre spannenden Saison ihr letztes Lager für dieses Jahr in Abu Dhabi aufgeschlagen. Und jeder, der sich auch nur einen Hauch für das interessiert, was den Sport im Kern ausmacht, der kann nicht anders, als völlig aus einem der Häuschen zu sein, die in dem Emirat gerne mal mehrere Hundert Meter hoch sind. Jetzt ahnt man auch, warum.

Denn dass zwei Fahrer punktgleich in das letzte Rennen starten, das gab es erst einmal in 71 Jahren Formel 1. 1974 gewann der Brasilianer Emerson Fittipaldi im McLaren vor Clay Regazzoni von Ferrari. Fittipaldi wurde mit 26 Jahren zum jüngsten Weltmeister der Geschichte, ehe ihn 2005 Fernando Alonso in dieser Statistik ablöste, der wiederum von einem gewissen Sebastian Vettel 2010 unterboten wurde: Vettel war 23 Jahre und 134 Tage alt, als er sich seinen ersten Weltmeisterpokal schnappte. Sollte sich in Abu Dhabi Max Verstappen gegen Lewis Hamilton durchsetzen und sich zum ersten Mal in seiner Karriere krönen, wäre er 24 Jahre und 73 Tage alt. Er kann Vettel in der Statistik nicht besiegen, dieser Rennwagen in die Geschichtsbücher ist für ihn abgefahren. Ist das schlimm?

Im Sport geht es immer auch um Zahlen, Statistiken, Bestmarken. Im Rennsport nehmen diese Daten überhand. Es gibt keine Disziplin, die im Wortsinn und übertragenen Sinn so vermessen ist wie die Formel 1. Das liegt an der speziellen Kombination aus Mensch und Technik; die Autos werden, noch während sie über die Strecke rasen, nicht nur von Ingenieuren an der Strecke überwacht, sie senden ihre Telemetriedaten auch in die riesigen Firmenzentralen in England. Red Bull sitzt in Milton Keynes, Mercedes, was gerne vergessen wird, nicht in Stuttgart, sondern in Brackley.

Wenn heute um 14 Uhr deutscher Zeit die Motoren angeschmissen werden am Hafen in Abu Dhabi, dann wird es um etwas gehen, das sich nicht messen lässt. Kein Lineal taugt, um zu bewerten, worauf es wirklich ankommt: Die Geschichte, die der Sport erzählt. Und die er, ist sie meisterhaft vorgetragen, den nächsten Generationen hinterlässt.

Wie damals, 1958, als sich die Engländer Stirling Moss und Mike Hawthorn duellierten. In Porto rasten sie über Kopfsteinpflaster und Straßenbahnschienen, Moss gewann das Rennen, Hawthorn drehte sich in der Schlussphase, ließ seinen Ferrari gegen die Fahrtrichtung anrollen und wurde Zweiter. Dafür sollte er disqualifiziert werden. Doch Moss setzt sich für ihn bei der Rennleitung ein. Hawthorn blieb in der Wertung. Und am Ende der Saison war Hawthorn Weltmeister. Mit einem Punkt Vorsprung. "Wenn ich mich nicht so für ihn eingesetzt hätte, wäre ich jetzt Champion", sagte Moss. "Aber ich würde das jederzeit wieder tun. Weil es fair war."

Noch ist nicht klar, wie an diesem Sonntag das Duell zwischen einem 36-jährigen Briten aus einfachen Verhältnissen mit einem 24-jährigen Rennfahrersohn aus Rennfahrerverhältnissen ausgehen wird. Noch weiß niemand, ob er irgendwann als Stoff für eine Film-Inszenierung taugen wird, wie das Duell zwischen James Hunt und Niki Lauda. Dem Österreicher, der das Feuer am Nürburgring überlebte, sich 42 Tage später mit blutenden Wunden in Monza wieder ins Auto setzte, und dann im Finale in Fuji bei Regen und Nebel seinen Rennwagen abstellte - weil ihm sein Leben wichtiger war als der Titel.

So groß wie 1976 kann die Erzählung von 2021 nicht mehr werden. Muss sie auch nicht. Und dass Verstappen nach dem Rennen wie Moss zu den Kommissaren läuft, um ein paar Extrapunkte für Hamiltons achten Titel auszuhandeln, ganz ehrlich: Das erwartet niemand.

Aber schön wäre schon, würde Verstappen nicht von seiner Pole Position unbedrängt der Ziellinie entgegenschweben wie ein Transrapid. Beide Fahrer lauern zu Beginn in den begehrtesten Parkbuchten. Nur eine Panne führte dazu, dass sie unterschiedliche Reifen an ihren Autos tragen. Die Voraussetzungen für etwas Zeitloses sind gegeben. Mögen die Barden noch in vielen Jahren von einer großartigen Saison singen, die ein ebensolches Finale erlebte.

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