Süddeutsche Zeitung

Hansi Flick als Bundestrainer:Ratlos unter der Dusche

Lesezeit: 4 min

Der neue Bundestrainer Hansi Flick muss in Abwesenheit von Thomas Müller und Manuel Neuer erstmal über die Kapitänsfrage nachdenken. Zudem wird ihm bewusst, dass sein neues Amt eine politische Dimension hat .

Von Philipp Selldorf, Stuttgart

Zur Anpreisung des Debüts des Bundestrainers Hansi Flick war im Vorhinein so manche aufregende Schlagzeile denkbar, die den mindestens historischen Vorgang angemessen illustriert, aber nach Lage der Dinge drängen sich jetzt doch zwei Überschriften auf, die von den üblichen Erwartungen erheblich, man könnte meinen: dramatisch, abweichen. Die eine lautet: "Flick steht ratlos unter der Dusche". Die andere heißt: "Flick schickt Thomas Müller nach Hause".

Bisher hatte man gedacht, dass der unverletzliche Müller ebenso viele Adduktoren besitzt wie Muskeln

Über Müller hatte Flick zuletzt den wunderbar prägnanten Satz gesagt, es sei "besser, ihn im Team zu haben, als ihn nicht im Team zu haben". Doch ebenjener aus Prinzip immer erwünschte Müller hat ihn nun vor überraschende Tatsachen gestellt. Vor dem Einsatz beim WM-Qualifikationsspiel in St. Gallen gegen Liechtenstein hat Flick den 31 Jahre alten Angreifer nach Hause verabschiedet, weil der aufsehenerregende Umstand eingetreten ist, dass Müller ein Problem mit seinen Adduktoren hat. Dabei hatte man bisher gedacht, dass der aus Prinzip unverletzliche Müller ebenso viele Adduktoren besitzt wie Muskeln, nämlich keine. "Es hätte funktionieren können, aber das Risiko ist einfach zu groß", erklärte der Coach das nahezu Unerklärliche.

Müller wäre ein Kandidat für die Lösung des Rätsels gewesen, das Flick bei der Morgenwäsche unter der Brause vergeblich zu lösen versuchte. Denn auch Manuel Neuer muss für die Partie am Donnerstag passen, ihm macht das lädierte Sprunggelenk zu schaffen. An seiner Stelle wird Bernd Leno bei der Trainer-Premiere gegen Liechtenstein im Tor stehen, was bedeutet, dass Flick einen anderen Spielführer auswählen muss. Ja, gestand Flick, "das habe ich mir vorhin unter der Dusche auch überlegt: Wer ist eigentlich Kapitän?"

Trotz des Gewichts dieser Vorkommnisse wäre es wohl übertrieben, sie beim Start der Nationalmannschaft in die neuen Zeiten zu einem bösen Omen oder wenigstens einem "Paukenschlag" zu erheben. Flick wirkte keineswegs erschüttert, als er im Raum "Degerloch" des Tagungszentrums Waldaupark in Stuttgart Bericht erstattete. Anders übrigens als manche Teilnehmerin des zur gleichen Stunde im Saal nebenan praktizierten Examens zur "geprüften Rechtsfachwirtin". Manche Auszubildende beklagte später bitterlich das Ergebnis ihrer Bemühungen, doch da hatte Flick schon das Haus verlassen.

Beim deutschen Team sollen wieder mehr Schwung und Angriffsfreude herrschen als in den späten Löw-Jahren

Das Fürstentum Liechtenstein zählt 38 000 Einwohner, von denen angeblich 2100 Fußball spielen, was eine beachtliche Quote darstellt, aber aus dem nächsten deutschen Gegner noch keine internationale Größe macht. Der überschaubare Glamourfaktor der Begegnung stört Flick jedoch nicht, den Gegner erklärte er geradewegs zur Nebensache, ohne damit die Liechtensteiner herabsetzen zu wollen: "Es ist mein erstes Länderspiel mit meinem Trainerteam, von dem ich absolut begeistert bin. Wir freuen uns alle auf unseren ersten gemeinsamen Einsatz, da ist der Gegner erstmal egal."

Es war in dieser Woche so oft vom Zauber des Neuanfangs, von Begeisterung und Aufbruchsstimmung die Rede, dass es hin und wieder wie auswendig gelernt geklungen hat. Aber Flick machte am Mittwoch mit seiner aufrichtig guten Laune den Eindruck, dass doch etwas dran ist an der Erzählung vom neuen Pioniergeist beim DFB. Nicht nur auf dem Spielfeld sollen beim deutschen Team wieder mehr Schwung und Angriffsfreude herrschen als in den späten, tendenziell trüben Jahren mit Jogi Löw. Auch für die Zusammenarbeit mit seinen Mitarbeitern hat Flick andere Vorstellungen als sein Vorgänger, der zwar immer einen respektvollen und freundlichen Umgang wahrte, aber mitunter spontane und eigensinnige Entscheidungen über Aufstellung und Strategie traf.

Alleingänge, wie Löw sie im Bewusstsein seiner Richtlinienkompetenz und Fußball-Weisheit unternahm, soll es künftig nicht mehr geben. Flick verspricht eine grenzenlos offene Kommunikation und Mitspracherecht für jeden seiner Helfer im immer wieder erwähnten "Trainerteam". Dort werde es "keine Hierarchie" geben, wie er ausdrücklich betonte: "Bei uns gibt es keinen zweiten, dritten, vierten Co-Trainer, auch keinen Chef-Trainer. Ich bin Teamplayer, wir sprechen alle eine Sprache und sitzen am selben Tisch."

Niemand widerspricht Neuer in seiner Aussage, Weltmeister werden zu wollen

Am Mittwoch saßen sie zudem alle im selben Bus. Gleich beim ersten Einsatz erfuhr der neue Coach, dass er nicht nur eine Stelle als Sportlehrer, sondern auch ein politisches Amt angetreten hat. Wäre Flick noch beim FC Bayern, hätte er womöglich erfolgreich darauf bestanden, dass die Mannschaft den Weg aus Stuttgart nach St. Gallen nicht im Bus, sondern im Flugzeug bestreitet. Doch nachdem ein ähnlicher Kurzstrecken-Flug der DFB-Crew vor einem Jahr - damals ging es von Stuttgart nach Basel - ein schlechtes öffentliches Echo ausgelöst hatte, fügt er sich nun in die Lösung mit der Landstraße. Die Diskussion sei "legitim", findet er, "wir akzeptieren das, es ist alles in Ordnung". Aber er gab auch zu erkennen, dass er beim nächsten Mal die Professionalität und die Regeneration der Spieler für die wichtigeren Argumente halten könnte.

In der Sache kann Flick, wie man in München längst weiß, durchaus hart sein, er ist konfliktfähig und besitzt den nötigen Ehrgeiz, um Dinge durchzusetzen. Hohe Ansprüche trifft er aber nicht nur beim Publikum an, sondern auch bei den Beteiligten. Manuel Neuer hat zu Beginn der Länderspielwoche am Montag den Ton gesetzt, als er erklärte, "mit dieser Mannschaft" Weltmeister werden zu wollen, seitdem ist keiner hervorgetreten, der dem Kapitän widersprochen hat.

"Ich will's genauso wie der Manu", hat zum Beispiel anderntags Serge Gnabry bestätigt, das Ziel sei "natürlich hoch gesteckt - aber auch zu erreichen". Dass Joshua Kimmich am Mittwoch darauf hinwies, der Blick richte sich erstmal auf Liechtenstein und den Tabellenstand in der Qualifikationsgruppe J ("der ist nämlich nicht so prickelnd"), ist sicher nicht der Versuch, sich vor dem Bundestrainer als möglicher Ersatz-Kapitän zu profilieren (Favorit ist er sowieso). Kimmich drängt mindestens genauso entschlossen auf den höchstmöglichen Erfolg. "Es geht immer um Chancen im Leben, wir haben leider schon zwei in den Sand gesetzt", sagte er mit Blick auf die WM 2018 und die EM 2021. Hansi Flick tritt jetzt dazu an, die nächste Gelegenheit besser zu nutzen.

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