Süddeutsche Zeitung

Mittelstürmer in der zweiten Liga:Standardmodell: groß, kantig, vollblütig

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Von Terodde und Glatzel über Kleindienst und Burgstaller bis zu Füllkrug und Ducksch: Die zweite Liga ist voll von Stürmern eines bestimmten Schlages. Sie funktionieren als personifiziertes Spielkonzept und es gilt: Je älter, desto besser.

Von Philipp Selldorf, Köln

Schalkes Sportdirektor Rouven Schröder, 46, ist in seiner Spielerkarriere weit herumgekommen. In den Nullerjahren hat er, von Nord bis Südwest, drei Regionalligen befahren und mit dem MSV Duisburg sowie dem VfL Bochum die zweite und die erste Bundesliga erlebt. Zu Länderspielehren hat es zwar nicht ganz gereicht, aber daran lag es nicht, dass Schröder gelegentlich mit seiner Berufswahl haderte. "Warum bist du Abwehrspieler geworden?", hat er sich immer wieder gefragt. Warum nicht Angreifer?

Als Angreifer verdiente man zu seiner Zeit nicht nur mehr Geld, sondern bekam auch mehr Applaus, und daran hat sich im Grunde bis heute nicht viel geändert, die Betrachtungsweise, sagt Schröder, sei die gleiche geblieben: "Du kannst als Stürmer das ganze Spiel unterirdisch sein, aber wenn du in der 89. Minute das Tor schießt, bist du der Held. Als Abwehrspieler kannst du einen super Job machen, aber wenn du in der 89. Minute einmal danebenrutschst, dann bist du an allem schuld."

Andererseits wird gerade Schröder nicht leugnen, dass gewisse Stürmer ihren ganz speziellen, unersetzlichen Wert besitzen. Dass Schalke zu den glorreichen Sieben gehört, die am Wochenende in das Serien-Finale um die Aufstiegsplätze der zweiten Liga eintreten, das hat der Klub unwiderlegbar Simon Terodde zu verdanken, der mit seinen 21 Treffern die Urheberrechte für etliche der bisher erzielten Punkte besitzt. Ja, Fußball ist ein Mannschaftssport, und Terodde hätte ohne die Mitspieler keinen Erfolg, dennoch entstammen viele seiner Tore seinem autonomen, einzigartigen Zutun. Zum Beispiel praktiziert der 34-Jährige gern den Laufweg zum sogenannten kurzen Pfosten, um sich aus der Deckung zu lösen. Jeder gegnerische Trainer und jeder Verteidiger weiß das - trotzdem ist Terodde immer wieder allein zur Stelle. Und wie man in Fachkreisen sagt: Meistens klingelt's dann.

Auch die Teams aus der unteren Tabellenhälfte setzen auf diesen Spielertyp

Zu den besagten Sieben zählt trotz ständiger Schmähungen auch der Hamburger SV, der an diesem Wochenende seine Sonderrolle im Wettkampf belegt. Während die anderen Hochplatzierten jeweils gegeneinander spielen - der Dritte gegen den Ersten, der Vierte gegen den Siebten und der Zweite gegen den Fünften - tritt der HSV bei Holstein Kiel, Platz zwölf, an. Das wird in den nächsten Wochen noch öfter passieren: Die Spitzenklubs nehmen sich immer wieder gegenseitig die Punkte weg, der HSV trägt ein Alternativ-Programm gegen die zweite Tabellenhälfte aus. HSV-Fans haben genau davor Angst.

Fest steht jedenfalls, zumindest für den früheren Hamburger Torwart Uli Stein: Mit Terodde wäre der HSV bereits so gut wie aufgestiegen. Im TV-Sender Sport 1 vertrat Stein, immer schon ein Mann mit sehr eigenen Ansichten, die These, das größte Problem des HSV sei der 28 Jahre alte Mittelstürmer Robert Glatzel.

17 Treffer sind Stein nicht genug, es hätten viel mehr sein müssen, findet er, aber da fehlt ihm als Torwart vielleicht doch der Durchblick. Glatzel erfüllt ja seinen Auftrag als Torjäger. Er ist für den HSV, was Terodde für Schalke ist, Guido Burgstaller für den FC St. Pauli, das Duett Marvin Ducksch & Niklas Füllkrug für Werder Bremen, Tim Kleindienst für den FC Heidenheim. Auf das gute alte Standardmodell des großen, kantigen, vollblütigen Mittelstürmers mögen, mit Ausnahme des 1. FC Nürnberg, weder die Spitzenteams der zweiten Liga noch die Angehörigen der niederen Ränge verzichten.

Erfahrung ist dabei ebenfalls ein unerlässliches Kriterium. Faustregel: Je älter, desto besser. Die Kopfbälle von Karlsruhes Philipp Hofmann, 29, etwa fliegen von Saison zu Saison schöner. Dem mutmaßlichen Absteiger FC Erzgebirge Aue hingegen fehlen genau jene Tore, die Pascal Testroet, 31, nicht mehr für Aue, sondern für den SV Sandhausen schießt. Wo wäre Hansa Rostock ohne die 15 Tore von John Verhoek, 34? Fortuna Düsseldorf leistet sich seit der Rückrunde neben Rouwen Hennings, 34, dessen Artverwandten Daniel Ginczek, 30, und seitdem klingelt's auch wieder öfter. Erfahrene Mittelstürmer fungieren in der zweiten Liga als personifiziertes Spielkonzept.

Schalke hatte vor der Saison noch keine Mannschaft, aber immerhin Terodde

Terodde ist dafür ein typischer Fall. Er sagte zu, als Schalke noch auf Abschiedstour in der ersten Liga unterwegs war. Rouven Schröder war als neuer Sportdirektor noch nicht offiziell im Dienst, aber darüber informiert, dass Sportvorstand Peter Knäbel den Transfer in Gang gesetzt hatte. "Diese Lorbeeren hat Peter verdient - das war ein kluger Schachzug. Simon Terodde zu holen, das war ja auch als Zeichen zu verstehen: Wir haben was vor in der nächsten Saison. Die Idee war, dass er ein starker Pfahl für die neue Mannschaft sein würde." Bloß dass diese Mannschaft nicht mal in Konturen existierte. Von jenen elf Spielern, die jetzt gegen Heidenheim zu erwarten sind, haben damals lediglich zwei für den Klub gespielt. Terodde war Schalkes Schwerpunkt-Investition.

Keine Bedenken wegen des Alters? Oder dass sich das Muster vielleicht abnutzen könnte, nachdem Terodde als fahrender Torfabrikant schon den VfB Stuttgart und den 1. FC Köln in die erste Liga zurückgebracht hatte? Nein, keine Bedenken, versichert Schröder: "Bei Simon konntest du mit 98 Prozent glauben, dass er das wieder hinkriegt, und dass er genau der Richtige ist, um das Ganze hier anzuschieben."

Die Wahrheit ist sogar, dass der Terodde der Saison 21/22 vielleicht der beste Terodde ist, den es je gab. Weil er mehr am Spiel teilnimmt, weil er sich gut bewegt und immer den Mitspieler findet, wenn er als Vorhut des Angriffs den Ball erobert und sichert. Schröder nennt Klasse und Professionalität als Gründe - und die Motivation des Lokalhelden: "Ich glaube' es ist für ihn eine Abrundung seiner Karriere. Schalke passt zu ihm, und er passt zu Schalke. Wenn man auf seine Laufbahn schaut: Bochum, Union, Stuttgart, Köln, HSV - du siehst, dass Simon auf diese Art Vereine steht."

Der HSV hat mit Glatzel im vorigen Sommer einen Dreijahresvertrag geschlossen, im Vertrauen darauf, dass er auch in der ersten Liga funktionieren könnte. Dass Schalke mit Terodde eine Vereinbarung mit Konjunktiv traf, hatte nichts mit Misstrauen zu tun, sondern mit der existenziellen Ungewissheit, die damals herrschte. Inzwischen hat sich der Vertrag durch 25 geleistete Einsätze von selbst verlängert, und Schröder wäre froh, wenn Terodde in der nächsten Saison gegen das Vorurteil vorgehen dürfte, dass seine Schützenkraft lediglich in der zweiten Liga wirksam wird: "Sollte es für uns, was wir alle hoffen, eine Etage höher gehen, dann wird Simon seinen Beitrag leisten, dass wir erfolgreich sind."

Der Torjäger, der aus dem Nichts kommt und zum Helden wird, dieses alte Motiv hat Schalkes Sportdirektor auch in dieser Saison immer wieder erleben dürfen. Schröder erinnert sich, wie Terodde einmal das ganze Spiel nicht zu sehen war, und wie er sich hinterher selbst für seinen Auftritt beschimpfte: "Aber Fakt ist: Wir haben 2:0 gewonnen, und er hat zwei Kisten gemacht."

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