Süddeutsche Zeitung

Visegrád-Staaten:Merkel und der Problemfall im Porzellansaal

Lesezeit: 3 min

Von Tobias Zick, Bratislava

Als sie sich neben dem lächelnden Viktor Orbán fürs unvermeidliche "Familienfoto" vor der Presse positioniert, klammert sich die Kanzlerin noch ein wenig kräftiger an die Raute aus Luft zwischen ihren Händen. Der ungarische Premier ist aus Angela Merkels Sicht in vielerlei Hinsicht der Problemfall im Raum, hier im Porzellansaal der Burg von Bratislava, hoch über der Donau.

Es ist heikles Terrain, das die Bundeskanzlerin an diesem Donnerstag betreten hat; das Gipfeltreffen der Visegrád-Staaten Polen, Tschechien, Slowakei und Ungarn. Aus Brüssler und Berliner Sicht sind das jene Länder, die sich in den vergangenen Jahren immer mehr zu den Sorgenfällen innerhalb der EU entwickelt haben.

Dabei ist der Anlass vordergründig ein feierlicher. Die Einladung habe, wie Merkel eingangs an der Seite des Gastgebers Peter Pellegrini erwähnt, "etwas zu tun auch mit der Tatsache, dass es jetzt 30 Jahre her ist", dass im Osten Deutschlands und in den heutigen Visegrád-Ländern "Menschen auf die Straßen gegangen" sind. Sie spielte auf Ereignisse an, die den Weg zur deutschen Wiedervereinigung mitbereitet haben. Doch dann wird schnell klar, dass es bei diesem Treffen wesentlich mehr um die Zukunft als um die Vergangenheit geht.

Was denn die Tatsache, dass unter offenkundiger Mitwirkung slowakischer Behörden ein vietnamesischer Geschäftsmann aus Deutschland entführt wurde, für das Vertrauensverhältnis zwischen den zwei Ländern bedeute? Und der bis heute nicht aufgeklärte Mord an dem slowakischen Investigativjournalisten Ján Kuciak vor einem Jahr? Man habe beides "kurz angesprochen", antwortet Merkel auf Journalistenfragen, während sie den nickenden Pellegrini neben sich anschaut, und sie habe "keinen Zweifel" daran, dass die Slowakei alles tun werde, was für die Aufklärung dieser Fälle nötig sei. Allzu offensichtliche Kontroversen mit dem Gastgeberland kann die Kanzlerin nicht gebrauchen, die Slowakei ist im Zweifel noch ihr zuverlässigster Verbündeter unter den vier Staaten, was nicht zuletzt daran liegt, dass das Land ein wichtiger Produktionsstandort der deutschen Autoindustrie ist.

Die große Handelsbilanz der vier Visegrád-Länder mit Deutschland ist denn auch der erste Punkt, den der slowakische Premier bei der Pressekonferenz der fünf Regierungschefs nennt, noch vor der gemeinsamen Erinnerung an 1989 und der Würdigung des "kulturellen Zivilisationsprojekts", zu dem man jetzt gemeinsam gehöre und, klar: "Wir möchten, dass dieses Europa auch erfolgreich bleibt."

Das Konkreteste des Gipfels ist ein Projekt, das "Fluchtursachen" in Marokko bekämpfen soll

Was das bedeutet, darüber sind die Differenzen bekanntlich größer, als dass man sie an einem Gipfeltag ausräumen könnte. Ungarns Regierungschef Viktor Orbán ist der erbittertste Gegner von Merkels Flüchtlingspolitik, er stemmt sich bis heute gegen einen EU-weiten Verteilungsschlüssel für die Aufnahme von Flüchtlingen. Das EU-Parlament hat ein Rechtsstaatlichkeitsverfahren gegen Ungarn gestartet, weil Bürgerrechtsgruppen und Medien unter immer stärkeren Repressionen leiden. Dazu sagt Orbán bei diesem feierlichen Anlass wenig - nur soviel: Man habe ein "sehr positives Gespräch geführt", jedes Land betrachte das Thema Migration aus seiner eigenen Perspektive, und Europa lebe doch von der Vielfalt seiner Sichtweisen. Die Europäische Union werde sich verändern - in welche Richtung, das werde man nach der Europawahl sehen.

Auch die anderen Kontroversen werden an diesem Tag hauptsächlich in Form von Pointen gestreift. Tschechiens Premier Andrej Babiš, Gründer eines bislang mit europäischen Subventionen bedachten Agrarkonzerns, dem die EU-Kommission einen Interessenkonflikt vorwirft, stichelt, er hoffe, die Kommission werde sich künftig wieder zu einem neutralen Schiedsrichter im Sinne der EU-Verträge entwickeln. Im übrigen habe er den Eindruck, einige westeuropäische Bauern wären ohne EU-Subventionen gegenüber ihren tschechischen und slowakischen Kollegen nicht konkurrenzfähig.

Polens Premier Mateusz Morawiecki, gegen dessen Regierung ein EU-Rechtsstaatlichkeitsverfahren läuft, empfiehlt seinen Kritikern, "die Geschichte Europas zu studieren"; nach der Wende seien, wie auch "im Osten Deutschlands", in Polen viele Richter aus dem "alten System" im Amt verblieben.

Das Konkreteste, was der Gipfel hervorbringt, ist die Ankündigung eines Entwicklungsprojekts, mit dem die Visegrád-Länder und Deutschland "Fluchtursachen" bekämpfen wollen - in Marokko. Nicht gerade eines der Hauptherkunftsländer jener großen Migrationsbewegung auf der Balkanroute, mit der 2015 der bis heute dauernde Streit begann. Aber ein symbolischer Akt des gemeinsamen Handelns ist, nach den Eskalationen der letzten Jahre, deutlich mehr als nichts.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.4320759
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 08.02.2019
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.