Süddeutsche Zeitung

Türkei:Mit der Justiz gegen die Opposition

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Der Oppositionspolitikerin Canan Kaftancıoğlu drohen acht Jahre Haft - wegen angeblicher Präsidentenbeleidigung auf Twitter

Von Tomas Avenarius, Istanbul

Die türkische Justiz geht gegen eine der einflussreichsten Oppositionspolitikerinnen des Landes vor. Sollte Canan Kaftancıoğlu, Chefin der Istanbuler Sektion der sozialdemokratisch orientierten CHP, wegen angeblicher Präsidentenbeleidigung und Volksverhetzung tatsächlich für mehr als acht Jahre im Gefängnis verschwinden, wäre dies ein harter Schlag für die CHP als stärkste Oppositionspartei der Türkei.

Die Staatsanwaltschaft am Obersten Gericht forderte nun die Bestätigung mehrerer früherer Urteile gegen Kaftancıoğlu: Ihre Haftstrafe würde sich auf acht Jahre und zwei Monate summieren. Vorgehalten werden der Politikerin Tweets aus den Jahren 2012 und 2017. Sie habe den Staatspräsidenten mit diesen Twitter-Nachrichten beleidigt, zur Volksverhetzung aufgerufen und den türkischen Staat "erniedrigt". Lediglich der Vorwurf der Terrorunterstützung wurde nicht wiederholt.

Die Justiz, die nach Ansicht von Kritikern und Menschenrechtlern zunehmend als politisch instrumentalisiert und als verlängerter Arm des Präsidenten gilt, scheint so den immer härteren innenpolitischen Kurs von Recep Tayyip Erdoğan zu stützen. Dass das Kassationsgericht dem Antrag der Staatsanwaltschaft stattgibt, ist daher nicht unwahrscheinlich. Und die Haltung der Regierung zur Person Kaftancıoğlus ist klar: Innenminister Süleyman Soylu hatte die Oppositionspolitikerin als "Närrin" und Handlangerin der als Terrororganisation gelisteten PKK und anderer linker Gruppen bezeichnet.

Die Politikerin half maßgeblich, Erdoğans Partei in Istanbul zu schlagen

Die 49-Jährige gilt als Architektin des sensationellen Wahlsieges von Ekrem İmamoğlu, des heutigen CHP-Bürgermeisters von Istanbul. Im Jahr 2019 besiegte er Erdoğans AKP, die die größte und wichtigste Stadt des Landes davor fast dreißig Jahre regiert hatte. Kaftancıoğlu wird neben der Wahlkampfstrategie auch zugeschrieben, die Korrektheit der Wahlen in der 16-Millionen-Stadt durch ein ausgeklügeltes Überwachungssystem sichergestellt und Manipulationen verhindert zu haben. Wegen ihres strategischen Vermögens und wegen ihrer guten Kontakte zur kurdischen Bevölkerung wird ihr eine herausragende Rolle im kommenden Wahlkampf zugeschrieben: Im Jahr 2023 sollen Präsident und Parlament neu gewählt werden.

Da der Rechtsstaat in der Türkei zunehmend ausgehöhlt wird, passt das Vorgehen der Staatsanwaltschaft gegen die Oppositionspolitikerin in das Bild des immer härteren Kurses, den Erdoğan innenpolitisch steuert. Unterstützt, aber auch regelrecht getrieben wird der Präsident dabei von seinem inoffiziellen Koalitionspartner, der rechten, ultranationalistischen MHP unter ihrem Vorsitzenden Devlet Bahçeli.

Die Staatsanwaltschaft hatte erst vor wenigen Tagen beim Verfassungsgericht ein Verbot der prokurdischen und linken Oppositionspartei HDP beantragt; 679 HDP-Politikern droht im Verbotsfall zudem ein fünfjähriges persönliches Politikverbot. Die prokurdische HDP ist im Parlament die zweitstärkste Oppositionskraft nach der CHP. Sie wird auch von liberalen und linken Nichtkurden gewählt und gilt als möglicher Koalitionspartner der CHP.

Ankara ignoriert Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte

Der inhaftierte frühere HDP-Co-Vorsitzende Selahattin Demirtaş, ein weiterer Hoffnungsträger der Opposition, war am Montag ebenfalls wegen Präsidenten-Beleidigung zu dreieinhalb Jahren Haft verurteilt worden. Demirtaş sitzt zudem seit vier Jahren ohne Verfahren wegen Terrorismusvorwürfen in Untersuchungshaft. Sollte er in dem Terrorismus-Verfahren schuldig gesprochen werden, drohen ihm weitere 142 Jahre Haft. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte fordert wegen der unbegründet langen Untersuchungshaft seine Freilassung. Obwohl die Türkei Mitglied des Europarates ist, ignoriert Ankara dies.

Aufsehen erregte jüngst, dass Ankara die Istanbul-Konvention zum Schutz der Frauen vor Gewalt aufgekündigt hatte. Die EU-Staats- und Regierungschefs beraten bei einem Gipfel am Donnerstag auch über die Beziehungen zur Türkei. Die Demontage des Rechtsstaats und die Menschenrechtslage dürften ein Thema sein. Human Rights Watch warnte die EU davor, zur Tagesordnung überzugehen, "während die türkische Regierung ihre Angriffe auf Kritiker, die parlamentarische Demokratie und Frauenrechte eskaliert".

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