Süddeutsche Zeitung

Das Politische Buch:Der Staat bin ich

Lesezeit: 3 min

Gideon Rachman gelingt die Charakterisierung eines derzeit unheimlich erfolgreichen Politiker-Typus zwischen Demokratie und Autokratie.

Von Nicolas Freund

Das Rezept ist überall das gleiche: Personenkult, Verachtung für den Rechtsstaat, die Behauptung, das "normale Volk" zu vertreten, sowie eine Rhetorik, die Angst und nationalistische Emotionen anspricht. Das sind die Grundmerkmale autoritärer Machthaber, die in den vergangenen zwanzig Jahren von China bis in die USA - oft entgegen allen Erwartungen - an die Spitze einer Vielzahl von Staaten aufgestiegen sind. Der britische Journalist Gideon Rachman nennt sie in seinem Buch Strongmen, also starke Männer, und es sind tatsächlich bisher fast nur Männer, die in dieses Schema passen und sich auch oft bis zur Grenze der Lächerlichkeit als "Männer" inszenieren, wie Rodrigo Duterte auf den Philippinen, der mit Gewalttaten prahlt, Narendra Modi in Indien, der 2001 einen Satelliten mit einem eingravierten Porträt von ihm in den Weltraum schießen ließ, oder natürlich Wladimir Putin, der mit nacktem Oberkörper in Sibirien posierte, als würde er in seiner Freizeit am liebsten mit Braunbären ringen. Auch wegen dieser Hemmungslosigkeit identifiziert Rachman Wladimir Putin als den Urtypus dieses Politikers, dessen Stil sich zum Beispiel Donald Trump ganz offen zum Vorbild genommen hat.

Staat und Amtsträger werden als eins wahrgenommen

Die Strongmen sind oft, aber nicht immer Autokraten. In der deutschen Übersetzung heißt das Buch auch "Die Welt der Autokraten", was allerdings ein wenig irreführend ist. Denn bei der Einführung dieses Begriffs geht es Rachman wohl gerade darum, eine neue Kategorie einzuführen zwischen demokratisch gewählten und demokratisch gesinnten Staatsoberhäuptern am einen Ende des Spektrums und mehr oder weniger offenen Diktaturen am anderen Ende. So wirkt es auf den ersten Blick etwas eigenartig, dass für ihn sowohl Putin, aber auch Boris Johnson in Großbritannien und Jarosław Kaczyński in Polen zu den Strongmen zählen. Aber es ist gerade ein weiterer Zug vieler dieser starken Männer, dass sie sich demokratisch geben, aber autokratisch handeln und so die Grenzen zwischen den Staatsformen verwischen. Auch Putin stellte Russland ja bis vor Kurzem noch als Demokratie dar und warf gleichzeitig dem Westen vor, sich eben nicht an die eigenen Ideale zu halten. Und natürlich, so stellen es viele dieser Strongmen dar, können nur sie die eigene Nation vor den verdorbenen, ausländischen Kräften retten: "Die Unterscheidung zwischen Staat und Amtsträger verwischt", schreibt Rachman, "sodass ein Ersetzen des strongman durch einen gewöhnlichen Sterblichen gefährlich und undenkbar erscheint."

Tatsächlich ist es das Merkmal vieler dieser Politiker, mit Ausnahme von Mohammed bin Salman in Saudi-Arabien und weniger anderer, dass sie irgendwann einmal demokratisch gewählt wurden. Denn Strongmen behaupten oft nicht nur, das "einfache Volk" zu vertreten, in vielen Fällen verstehen sie auch sehr gut, was zumindest eine Mehrheit der Bevölkerung gerne hören möchte und wie man diese Wähler erreichen kann. Am besten nämlich nicht über Argumente oder Fakten, diese sind für Strongmen, wie es Donald Trumps Beraterin Kellyanne Conway mit ihren "alternativen Fakten" unfreiwillig auf den Punkt brachte, ohnehin nur argumentative Verfügungsmasse. Wichtiger sind Emotionen sowie "gefühlte Wahrheiten", und diese lassen sich am besten über soziale Medien adressieren. Auch diese Medien und ihr oft zögerlicher Umgang mit Propaganda, Fake News und Hass haben zum Aufstieg dieser Politiker beigetragen.

Der Ukraine-Krieg wirft Fragen auf

Nach einer Einleitung zur Theorie des Strongmen stellt Rachman in je einzelnen Kapitel die Vertreter dieser Gattung von Putin bis Abiy Ahmed vor und liefert neben oft witzigen Anekdoten (Rachman hat viele dieser Politiker im Laufe seiner Karriere persönlich getroffen) auch eine kleine Geschichte des internationalen Demokratieabbaus in den vergangenen 20 Jahren. Obwohl er in einem neuen Vorwort zur deutschen Ausgabe auch auf den Krieg in der Ukraine eingeht, wirft das Buch nach den Ereignissen dieses Jahres aber doch ein paar unbeantwortete Fragen auf.

Wo wäre zum Beispiel der belarussische Machthaber Alexander Lukaschenko zu verorten oder der nordkoreanische Diktator Kim Jong-un, die nun beide nichts mit Demokratie zu tun haben, aber doch viele Merkmale der Strongmen teilen? Und ist die neu gewählte Giorgia Meloni in Italien die erste Strongwoman? Die Kategorien scheinen nicht ganz zu passen, was aber auch damit zusammenhängt, dass dieser Typus des Politikers nach seinem rasanten Aufstieg zuletzt mit der Abwahl Jair Bolsonaros in Brasilien schon wieder in die Krise geraten zu sein scheint, und dafür ist auch maßgeblich der Erfinder dieses Stils verantwortlich: Wladimir Putin. Denn die Überblendung von Staat und ihrer Person kann sich schnell gegen die Herrscher wenden, wenn sie katastrophale und offensichtliche Fehlentscheidungen treffen wie Putin mit der Invasion der Ukraine. Gleichzeitig könnte es natürlich den Typus des Strongman auch in anderen Ländern stärken, wenn Putin doch noch Erfolge in seinem Angriffskrieg vorweisen kann.

Methoden und Tricks durchschauen

Rachman liefert mit seinem Buch nicht nur die überfällige Charakterisierung eines derzeit unheimlich erfolgreichen Politiker-Typus zwischen Demokratie und Autokratie - indem er sie nicht auf der einen oder der anderen Seite verortet, sondern in einer eigenen Kategorie, macht er sie greif- und verstehbarer; ihre Tricks und Methoden durschaubarer. Er zeigt dazu auch noch, dass Aufklärung im Umgang mit diesen Politikern nötig ist, die sich, wie Recep Tayyip Erdoğan, Xi Jinping oder auch Mohammed bin Salman, oft als liberale Reformer gerieren, um dann immer weiter in die Autokratie abzurutschen. Denn gegen Politiker, die ihre Karrieren vor allem auf Provokationen, Lügen und Emotionen aufbauen, helfen vor allem: Fakten.

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