Süddeutsche Zeitung

Offene Schulen trotz Corona:Da kann man was lernen

Lesezeit: 4 Min.

Schulen auf, Schulen zu - nicht in Frankreich und der Schweiz. Dort bleiben sie auch im Lockdown weitgehend geöffnet. Masseninfektionen bleiben trotzdem weitgehend aus.

Von Paul Munzinger, Nadia Pantel, Paris, und Isabel Pfaff, Bern, München, Paris, Bern

Bildung hat Priorität - diesen Satz hört man in Deutschland seit Monaten aus vielen Politikermündern. Meistens wird er mit dem Hinweis versehen, dass der erste Lockdown in aller Deutlichkeit gezeigt habe, wie dringend Kinder und Jugendliche die Schule brauchen - nicht nur als Ort des Lernens, sondern des Miteinanders.

Doch den zweiten Lockdown im Winter konnten alle Bekenntnisse nicht verhindern. Und weil die Zahlen wieder steigen, steht auch der aktuelle, zaghafte Öffnungskurs schon wieder infrage, in manchen Kreisen in NRW etwa kehren die Klassen schon wieder in den Distanzunterricht zurück. Wir wollen ja den Präsenzunterricht, heißt es, aber bei den Zahlen geht es eben nicht anders.

Wer nach Frankreich und in die Schweiz blickt, sieht: Doch, es geht.

In der Schweiz blieben seit Ausbruch der Pandemie Kitas und Schulen nur rund acht Wochen lang geschlossen: von Mitte März bis Mitte Mai 2020. In dieser Phase hatte die Schweizer Bundesregierung auf Basis des Epidemiegesetzes das Ruder übernommen und konnte durchregieren. Inzwischen ist die Bekämpfung der Pandemie wieder in erster Linie Sache der 26 Kantone. Sie entscheiden, was mit den Schulen geschieht - und demonstrieren in dieser Frage relative Einigkeit: Präsenzunterricht darf nur mit Schutzkonzept stattfinden, in weiterführenden Schulen herrscht landesweit Maskenpflicht, und in einigen Kantonen müssen seit Februar auch Schüler ab der vierten Klasse eine Maske tragen. Doch bis auf ein paar auf wenige Wochen beschränkte Ausnahmen hat bis heute kein Kanton seine Kitas und Schulen erneut geschlossen.

Bisher scheint diese Strategie für die Schweiz aufzugehen. Zwar traf die zweite Pandemiewelle das Land hart: Zeitweise verzeichnete kaum eine andere europäische Nation so viele Neuinfektionen pro Kopf, und auch bei der Übersterblichkeit nahm die Schweiz einen Spitzenplatz ein. Doch Ende Dezember begann auch die Eidgenossenschaft, ihre Maßnahmen schrittweise zu verschärfen, woraufhin sich das Infektionsgeschehen wieder dem in Deutschland annäherte - ohne geschlossene Schulen. Derzeit liegt die Sieben-Tages-Inzidenz der Schweiz bei rund 120, in Deutschland bei 108.

Das Virus zirkuliert zwar an den Schulen, aber viele Ausbrüche gibt es nicht

Aktuelle Studien aus der Schweiz legen nahe, dass das nicht nur ein glücklicher Zufall ist. " Unsere Forschung zeigt, dass es in Schulen mit Schutzkonzepten bis zum Herbst 2020 nur zu sehr wenigen Ansteckungsclustern kam", sagt Milo Puhan, Epidemiologe an der Uni Zürich. Seine Forschungsgruppe hat 2500 Kinder an 55 Schulen im Kanton Zürich untersucht - einmal im Sommer 2020, einmal im Herbst. Bei dieser zweifachen Antikörper-Kontrolle hat sich herausgestellt, dass sich bis Juni zwei Prozent und bis November acht Prozent der Schülerinnen und Schüler mit dem Coronavirus angesteckt haben. Das Virus zirkuliert also durchaus an den Schulen - aber zu vielen Ausbrüchen scheint es nicht zu kommen. "Wir haben nur wenige Klassen mit mehr als drei infizierten Schülern gesehen", sagt Puhan.

Puhan ist Mitglied in der Covid-19-Taskforce, die die Schweizer Regierung wissenschaftlich berät. Unter anderem auf Basis der Zürcher Forschungen empfahl das Gremium im Dezember, Schulen "nur als äußerste Maßnahme bei hohen Ansteckungsraten" zu schließen. "Das Grundrecht auf Bildung muss so weit wie möglich gewahrt bleiben." Bislang orientieren sich Bundesrat und Kantonsregierungen am Rat der Forscherinnen und Forscher, und auch in der öffentlichen Debatte spielen Schulschließungen nur eine untergeordnete Rolle.

Als Frankreich im Frühjahr 2020 noch im ersten Lockdown steckte, spekulierten die Medien, dass es wohl bis September 2020 dauern würde, bis die Schulen wieder zum Regelunterricht übergehen. Entsprechend überrascht wurde die Entscheidung von Präsident Emmanuel Macron aufgenommen, die Schulen bereits im Mai, kurz nach Ende der Ausgangssperre, wieder zu öffnen. Bei diesem Kurs ist Frankreich auch ein Jahr später noch geblieben: Die Schulen schließen als Allerletztes. Aktuell sind 16 Départements des Landes in einem dritten Lockdown, darunter die Hauptstadt Paris, wo die Inzidenz bei 500 Infizierten pro 100 000 Einwohnern und die Auslastung der Intensivstationen bei mehr als 110 Prozent liegt. Es gelten Bewegungsbeschränkungen und eine nächtliche Ausgangssperre - doch die Schulen bleiben auf.

Inzwischen haben sich die geöffneten Schulen zum Objekt des nationalen Stolzes entwickelt. Als Premierminister Jean Castex vergangenen Donnerstag den Beginn des dritten Lockdowns verkündete, betonte er gleichzeitig, dass die "Bildung unserer Kinder geschützt bleibt". Dies sei "eine Entscheidung, die uns von vielen unserer Nachbarn unterscheidet", so Castex. Er zeigte mit dem Finger auf Deutschland: Dort lebe man "seit drei Monaten in einem strengen Lockdown, in dem die Schulen und Kindergärten geschlossen sind". So ganz stimmte das zwar nicht. Doch auffallend ist: Frankreich schränkt die Bewegungsfreiheit des Einzelnen seit Beginn der Pandemie deutlich stärker ein als Deutschland - mit einer Ausnahme: den Schülerinnen und Schülern. Der Präsenzunterricht gilt als nicht verhandelbar. Erst am Sonntag betonte Bildungsminister Jean-Michel Blanquer wieder, dass Frankreich es schaffe, der "globalen Bildungskatastrophe" zu entrinnen, indem es die Schulen offen halte.

Manche Eltern wussten nicht mehr, wie sie ihre Kinder ernähren sollten

Die Schule hat in Frankreich einen anderen Stellenwert als in Deutschland. Eine Schulpflicht gilt vom dritten Lebensjahr an, es gilt als selbstverständlich, dass auch Kleinkinder den gesamten Tag über vom Staat betreut werden. Während des ersten Lockdowns zeigten sich zudem die verheerenden Auswirkungen der Schulschließungen für ärmere Familien. Manche Eltern wussten nicht mehr, wie sie ihre Kinder ernähren sollten, als das günstige Schulessen wegfiel. Im zweiten Lockdown zeigte sich, dass es möglich ist, die Infektionszahlen zu senken, ohne die Schulen zu schließen. Im November war die Bewegungsfreiheit des Einzelnen wieder auf einen Kilometer rund um die eigene Wohnung beschränkt, die Schülerinnen und Schüler gingen jedoch weiter in den Unterricht. So konnte die Inzidenz innerhalb von drei Wochen von 500 auf 100 gesenkt werden.

Jetzt aber steigt auch in Frankreich die Zahl der Schulklassen, die wegen Covid-Erkrankungen geschlossen werden müssen. Aktuell sind es 2018 Klassen, in der Vorwoche waren es laut Bildungsministerium 833. Zudem fallen viele Lehrerinnen und Lehrer wegen einer Covid-19-Infektion aus. Am Dienstag kündigte Staatspräsident Macron an, dass von Mitte April an Lehrer zu den Berufsgruppen gehören könnten, denen beim Impfen Priorität eingeräumt wird. Vorausgesetzt, es stehe ausreichend Impfstoff zur Verfügung.

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