Süddeutsche Zeitung

Flüchtlinge an der polnischen Grenze:Frost, Wasserwerfer und Warnschüsse

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Während Hunderte Menschen weiterhin an der Grenze von Belarus nach Polen eingesperrt sind, schieben sich die Regierungen beider Länder die Schuld zu - und beide versuchen, politisches Kapital aus der Krise zu schlagen.

Von Florian Hassel, Warschau

Polen überlegt, wegen der andauernden Flüchtlings- und Migrantenkrise die Grenze zu Belarus vollständig zu schließen. Angesichts weiterer illegaler Grenzübertritte, so sagte Regierungssprecher Piotr Müller, habe Warschau die belarussische Regierung darüber informiert - bisher gebe es keine Antwort aus Minsk.

An der Grenze hoffen auf belarussischer Seite Hunderte Migranten beim Ort Kuźnica weiter auf einen Übergang nach Polen. Warschau verhindert das mit Stacheldraht, bereitstehenden Wasserwerfern und einem Großaufgebot an Grenzschützern und Polizisten. Die Lage der Migranten ist nicht nur angesichts des Nachtfrostes dramatisch: Zwar brachten belarussische Grenzbeamte den Menschen Essen, wollten aber polnischen Bildern zufolge die Leute gleichzeitig offenbar mit Schüssen abschrecken, von der an dieser Stelle unüberwindbar erscheinenden Grenze nach Belarus zurückzukehren.

Polnische Beamte griffen an etlichen anderen Stellen der gut 400 Kilometer langen Grenze nach offizieller Darstellung wieder Menschen auf, denen die Überquerung der Grenze gelungen war. Die Migrantengruppen hätten teils einige Dutzend, teils bis zu 200 Leute umfasst - alle seien zurück auf belarussisches Gebiet geschickt worden, hieß es von Polens Grenzschutz. "Wir haben es jetzt mit zahlreichen kleineren Gruppen zu tun, die die polnische Grenze simultan an verschiedenen Orten attackieren", sagte Verteidigungsminister Mariusz Błaszczak im polnischen Radio.

Grenzschutzsprecherin Katarzyna Zdanowicz zufolge habe Polen seit dem 26. Oktober mehr als 1050 illegal eingereiste Menschen über die Grenze zurückgeschickt. Diese Pushbacks sind nach internationalem Recht verboten. Die Sprecherin sagte nicht, wie viele Menschen einen Asylantrag stellen konnten und in polnische Aufnahmelager gebracht wurden. Dazu ist Polen nach internationalem Recht selbst dann verpflichtet, wenn Migranten die Grenze illegal überquert haben.

Auch Schleuser arbeiten weiter, teils mit großem Einfallsreichtum: Bei der Gemeinde Wieliczki, rund 50 Kilometer westlich des Dreiländerecks zwischen Belarus, Polen und Litauen stoppte die polnische Polizei in der Nacht zum Mittwoch einen Krankenwagen, der seinen Warschauer Fahrern zufolge Covid-19-Infizierte transportierte. Tatsächlich befanden sich in der Ambulanz nach Polizeiangaben 18 illegal eingereiste Iraker, welche die Fahrer mutmaßlich weiter nach Deutschland bringen wollten.

Morawiecki beschuldigt Putin

Ministerpräsident Mateusz Morawiecki sagte auf einer Sondersitzung des polnischen Parlaments am Dienstagabend, die Migranten würden als "menschliche Schilde benutzt, um die Situation in Polen und der EU zu destabilisieren ... Die imperiale Politik Russlands schreitet fort. Dieser letzte Angriff, bei dem Lukaschenko nur der Vollstrecker ist, hat ihre Vollmachtgeber in Moskau. Der Vollmachtgeber ist Präsident Putin", sagte Morawiecki. Der Ministerpräsident wiederholte damit eine Aussage von Ende September, dass Russland die Flüchtlingskrise mit organisiere.

Der belarussische Ex-Polizeioffizier Aleksander Asarow berichtete in der Tageszeitung Gazeta Wyborcza am 21. Oktober, der Migrantenschmuggel an die polnische Grenze sei vom belarussischen KGB-Chef Iwan Tertel zusammen mit dem russischen Geheimdienst FSB ausgearbeitet worden. Ein Kreml-Sprecher wies Vorwürfe einer russischen Beteiligung am Mittwoch als "unverantwortlich" zurück.

Bei der Sondersitzung im Sejm rief Ministerpräsident Morawiecki die Opposition angesichts der Krise zur Einheit auf: "Wir müssen heute vereint sein und Solidarität zeigen." Doch der Oppositionsabgeordnete und Ex-Verteidigungsminister Tomasz Siemoniak konterte: "Für Einheit braucht es Dialog, und diesen Dialog gibt es nicht." So habe etwa Präsident Andrzej Duda bis jetzt darauf verzichtet, den Nationalen Sicherheitsrat einzuberufen, an dem auch Oppositionsvertreter teilnehmen würden.

Die Beliebtheitswerte der polnischen Regierung sind zuletzt abgestürzt. Nun könnte sie versuchen, aus der Krise Kapital zu schlagen. "Dies ist eine Welle, auf der wir schwimmen können - angesichts einer Bedrohung scharen sich die Leute immer um die Regierung", zitiert Gazeta Wyborcza einen Berater des Parteivorsitzenden der Regierungspartei PiS, Jarosław Kaczyński. Die Regierung könne nun als Beschützer Polens auftreten. Auch die eng mit der Regierung verbundene katholische Kirche verwendet Bilder eines angeblich bedrohten Landes. Der ostpolnische Bischof Grzegorz Kaszak verglich die Flüchtlingskrise mit dem Angriff der Roten Armee auf Polen 1920.

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