Süddeutsche Zeitung

Sicherheitspolitik:Mahnung an Moskau

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Von Daniel Brössler, Berlin, Matthias Kolb, Brüssel, und Paul-Anton Krüger, Berlin/Brüssel

Bereits im fünften Satz seiner Pressekonferenz nennt Jens Stoltenberg das Thema, das den Außenministern der 29 Nato-Staaten zwei Tage lang das meiste Kopfzerbrechen bereiten wird: "Russlands destabilisierendes Verhalten". Auf der Tagesordnung, die der Generalsekretär in Brüssel referiert, stehen Gespräche mit den Chefdiplomaten aus Georgien und der Ukraine. Moskau fordere die Sicherheit dieser Länder regelmäßig heraus, beklagt Stoltenberg. Überschattet wird das Treffen jedoch von der unsicheren Zukunft des INF-Vertrags, durch den landgestützte Mittelstreckenraketen mit einer Reichweite zwischen 500 und 5500 Kilometern seit 1987 verboten sind.

Unterzeichnet haben das Abkommen zwar nur die damalige Sowjetunion und die USA, aber es war lange entscheidend für die Sicherheitsarchitektur in Europa - hier wären die Waffen zum Einsatz gekommen. Im Nato-Hauptquartier und in europäischen Hauptstädten zweifelt inzwischen kaum jemand mehr an Washingtons Überzeugung: Moskau bricht mit dem Marschflugkörper SSC-8 den INF-Vertrag. Deswegen hatte Donald Trump Ende Oktober gedroht, einseitig auszusteigen.

Ein mit Spannung erwartetes Treffen mit Russlands Präsident Wladimir Putin am Rande des G-20-Gipfels in Buenos Aires hatte der US-Präsident abgesagt und dies mit dem jüngsten "destabilisierenden Verhalten" Moskaus im Schwarzen Meer begründet, wo 24 ukrainische Marinesoldaten festgesetzt worden waren. Das Vier-Augen-Gespräch galt Beobachtern als letzte Möglichkeit, Trump abzuhalten, Russland offiziell über den Austritt zu informieren und eine sechsmonatige Phase einzuleiten, in der Moskau noch umsteuern könnte.

Ob die USA diesen Schritt schon an diesem Dienstag vollziehen, etwa in einer für den Vormittag angekündigten "Grundsatzrede" von US-Außenminister Mike Pompeo, lässt Stoltenberg offen. Er zieht sich auf das lange bekannte Argument zurück: "Ein Abrüstungsvertrag ist wertlos, wenn sich nur eine Seite daran hält." Die jetzige Situation sei "unhaltbar" und die Zeit werde immer knapper, betont der Norweger. Er kündigt eine "entschlossene Reaktion" an, die aber nicht bedeute, dass es neue atomare Mittelstreckenwaffen in Europa geben werde: "Die Nato wird nicht eins zu eins das machen, was Russland macht."

Erneut fordert Stoltenberg Moskau auf, seine Verpflichtungen zu erfüllen. Europäische Diplomaten bezweifeln allerdings, dass Putin dazu bereit ist - das liefe auf eine Verschrottung des neuen Marschflugkörpers SSC-8 hinaus, nach russischer Nomenklatur 9M729, der bereits bei den Streitkräften in mehreren Bataillonen eingeführt ist und sowohl konventionelle als auch nukleare Sprengköpfe tragen kann.

Auch wenn das transatlantische Verhältnis als "kompliziert" und die Stimmung als "düster" umschrieben wird, informiere Washington die Partner umfassend, sagen europäische Diplomaten. Zuletzt wurde den Verbündeten ein Satelliten-Film präsentiert, der belege, dass die SSC-8-Marschflugkörper weiter als 500 Kilometer fliegen können. US-Geheimdienstdirektor Daniel Coats legte zudem lange geheim gehaltene Details offen: Russland habe das System von einer stationären Abschussrampe mit einer Reichweite getestet, die unter den INF-Vertrag fällt. An sich ist das nicht verboten, solange der Test zur Entwicklung see- oder luftgestützter Raketen dient. Den gleichen Flugkörper habe Moskau dann aber von einem mobilen, landgestützten Abschussrampe getestet - zwar unter dem INF-Limit, aber durch die Kombination der Daten habe Russland heimlich ein System entwickelt, das nach dem INF verboten sei.

Die Klagen über eine Verletzung des INF-Vertrages gab es schon unter Obama

Mit den Arbeiten dafür habe die russischen Firma Novator Anfang der 2000er-Jahre begonnen, seit 2014 monieren die USA offiziell den Bruch des Abkommens und haben die Verbündeten darüber informiert, besonders intensiv in den vergangenen 18 Monaten. Recht genervt reagiert man daher in den Nato-Hauptstädten auf die Unschuldsbeteuerungen aus Moskau.

Das gilt auch für Berlin. Mit dem Versuch, die Schuld nun bei Trump und Pompeo abzuladen, sind die Russen jedenfalls bei der Bundesregierung abgeblitzt. Zwar wünschen sich die Deutschen nun möglichst viel Zeit für Verhandlungen, aber auch sie halten einen Vertrag, den Russland permanent bricht, für unhaltbar. Am Freitag wurden Bundestagsabgeordnete vertraulich über von den USA vorgelegte Belege und die Haltung der Bundesregierung unterrichtet. Wie in Brüssel gilt auch in Berlin die Maxime, nun möglichst Einigkeit gegenüber den Russen zu demonstrieren. In der Praxis heißt das erst einmal, dass die Allianz Moskau Russen ganz offiziell einen Vertragsbruch bescheinigen dürfte.

Vor allem in der SPD werden nun Erinnerungen wach an die Nachrüstungsdebatten des Kalten Krieges. Die Aufkündigung des INF-Vertrages rufe "diejenigen Geister zurück, die glauben, ein atomarer Krieg sei führbar und gewinnbar", warnt SPD-Fraktionsvize Rolf Mützenich und verweist auf die in Deutschland gelagerten taktischen US-Atomwaffen. "Es kann nicht sein, dass wir Präsident Trump für seine gefährliche Politik neue Mittel an die Hand geben oder gar als Stationierungsort für neue Mittelstreckenraketen dienen", sagte er der Süddeutschen Zeitung. Damit spielt er auch auf die Suche nach Ersatz für die in die Jahre gekommenen Tornado-Kampfjets der Bundeswehr an, die US-Atomwaffen tragen könnten. Diese Frage stelle sich "nun völlig neu" und sei "sorgfältig" zu erörtern. Der Fokus müsse nun auf Abrüstung liegen.

Unter Vertretern der europäischen Nato-Staaten gibt es auch den Wunsch, die öffentliche Wahrnehmung zu korrigieren: Die Klagen über Moskaus Verletzung des INF-Vertrags hätten schon unter US-Präsident Barack Obama begonnen, die Gipfel-Erklärung der Nato vom Juli enthielt klare Worte in Richtung Russland dazu. Die sich abzeichnende Aufkündigung sei also keine von Trumps impulsiven Handlungen und nicht zu vergleichen mit dem Ausstieg aus dem Iran-Atomabkommen oder seiner Verweigerungshaltung beim Klimaschutz.

Wünsche der ukrainischen Regierung an die Nato-Staaten indes, Kriegsschiffe ins Schwarze Meer zu schicken, wies Generalsekretär Stoltenberg zurück. Man halte an der starken "politischen und praktischen Unterstützung" für Kiew fest, aber eine militärische Lösung des Konflikts gilt als ausgeschlossen, wie Bundeskanzlerin Merkel jüngst klarstellte.

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Quelle:
SZ vom 04.12.2018
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