Süddeutsche Zeitung

Russland:Oberster Gerichtshof verbietet Memorial

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Die Menschenrechtsorganisation soll wegen Verstößen gegen das Gesetz über "ausländische Agenten" nicht weiterarbeiten dürfen.

Von Frank Nienhuysen, München

Das Oberste Gericht in Russland hat am Dienstag die Menschenrechtsorganisation Memorial verboten und damit international Empörung ausgelöst. Die Richterin schloss sich der Generalstaatsanwaltschaft an, die wegen mehrerer Verstöße gegen das Gesetz über "ausländische Agenten" das Aus des Dachverbandes gefordert hatte. Memorial hat eine derartige Einstufung durch das russische Justizministerium grundsätzlich abgelehnt, zugleich jedoch immer wieder entsprechende Bußgelder bezahlt. Die Organisation kündigte an, dass es in Russland Berufung gegen das Urteil einlegen werde, letztendlich auch bis zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gehen würde.

Memorial, das 2004 mit dem Alternativen Nobelpreis ausgezeichnet wurde, war Ende der Achtzigerjahre unter anderem vom russischen Friedensnobelpreisträger Andrej Sacharow gegründet worden. Es hat sich der Aufarbeitung insbesondere stalinistischer Verbrechen verschrieben. In einem weiteren Verfahren, das an diesem Mittwoch vor einem Moskauer Gericht fortgesetzt wird, droht dem Menschenrechtszentrum von Memorial ebenfalls das Aus. Es setzt sich für Gefangene, die nach seiner Ansicht aus politischen Gründen inhaftiert sind, ebenso ein wie etwa für Schutz suchende Angehörige von Minderheiten.

Russlands Präsident Wladimir Putin hatte das hohe Ansehen von Memorial einerseits anerkannt, der Organisation zugleich jedoch vorgeworfen, dass auf deren Liste von Opfern der sowjetischen Unterdrückung auch Personen aufgeführt seien, die an Morden beteiligt gewesen seien. Die Generalstaatsanwaltschaft hielt der Menschenrechtsorganisation am Dienstag vor, sie schaffe von der Sowjetunion das Lügenbild eines Terrorstaates. Es sei offensichtlich, dass Memorial "Nazi-Verbrecher rehabilitiert, an deren Händen das Blut sowjetischer Bürger klebt". Memorial wies dies zurück und erklärte, es berichte wahrheitsgetreu über Ereignisse in der sowjetischen Vergangenheit. Der russische Friedensnobelpreisträger und ehemalige sowjetische Staatspräsident Michail Gorbatschow hatte die Klage gegen Memorial kritisiert und dazu aufgerufen, sie zurückzuziehen.

In einer gemeinsamen Erklärung griffen zwölf deutsche Organisationen das Gerichtsurteil in Moskau scharf an. "Mit dem Verbot von Memorial - dem moralischen Rückgrat der russischen Zivilgesellschaft - gibt der russische Staat ein erschütterndes Selbstzeugnis ab", heißt es darin. Er bekämpfe "die Auseinandersetzung mit der eigenen Unrechtsgeschichte und möchte individuelle und kollektive Erinnerung monopolisieren". Die Unterzeichner, unter anderem die Böll-Stiftung, der Deutsch-Russische Austausch und das Pen-Zentrum, sprachen von einem "politisch motivierten Vorgehen der russischen Justiz". Der Vize-Vorsitzende der sozialdemokratischen Fraktion im Europarat, Axel Schäfer, sagte der Süddeutschen Zeitung: "Das Urteil atmet den Hauch von Neostalinismus und ist eine historische Zäsur im Umgang mit der Opposition in der Putin-Ära."

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