Süddeutsche Zeitung

Eklat bei Olympia:Der lange Arm des Diktators Lukaschenko

Lesezeit: 3 min

Polen wirft Belarus versuchte Entführung vor. In einem Fall in Kiew geht es sogar um Mordverdacht. Machthaber Lukaschenko beweist einmal mehr, dass seine Kritiker nirgendwo sicher sind.

Von Silke Bigalke, Moskau, und Matthias Kolb, Brüssel, Moskau, Brüssel

Die Instagram-Fotos von Kristina Timanowskaja zeigen auch das Leben, in das sie jetzt nicht mehr zurückkann, ihr Training in Minsk, Ausflüge mit dem Ehemann. Die belarussische Sprinterin kehrt von den Olympischen Spielen in Tokio nicht nach Hause zurück. Sie flieht nach Polen, weil sie Repressionen durch das Regime von Diktator Alexander Lukaschenko fürchtet, nachdem sie dessen Sportfunktionäre öffentlich auf Instagram kritisiert hatte. Diese wollten sie daraufhin aus Tokio verschleppen, sagt die 24-Jährige.

Warschau hatte ihr Asyl angeboten, von dort kommt nun auch die schärfste Kritik: Einen "kriminellen Versuch, eine Sportlerin zu entführen", prangert Ministerpräsident Mateusz Morawiecki auf Facebook an. Tatsächlich wäre sie nicht die erste Sportlerin aus Belarus, die ihre Freiheit verliert, weil das Regime in ihr eine Gegnerin sieht. Die "Aggression der belarussischen Sicherheitsdienste auf japanischem Gebiet", schreibt nun Polens Premier, müsse auf "entschiedenen Widerspruch der internationalen Gemeinschaft stoßen".

Der Widerspruch aus Brüssel war bisher allerdings verhalten. Eine Sprecherin des EU-Außenbeauftragten Josep Borrell nannte den Versuch, die Sprinterin "gegen ihren Willen" von Tokio nach Minsk zu fliegen, ein weiteres Beispiel für die Brutalität von Lukaschenkos Regime. Der Umgang mit Athleten widerspreche der olympischen Idee, sagte sie weiter und versicherte Timanowskaja die "volle Solidarität" der EU. Neben Polen hatten auch Tschechien und Slowenien humanitäres Asyl angeboten.

Seit Oktober 2020 haben die 27 EU-Länder vier Pakete mit Sanktionen gegen Personen und Firmen in Belarus erlassen; Lukaschenko wird nicht mehr als Präsident anerkannt, weil dessen Wahl als gefälscht angesehen wird. Auf die Forderung aus Litauen, wohin über das benachbarte Belarus etwa 4000 Migranten gelangt sind, nach einem fünften Paket mit Strafmaßnahmen reagieren die anderen Staaten bisher zurückhaltend.

Ermittlungen gegen Trainer gefordert

In Minsk dagegen bleibt es bislang merkwürdig still um den Fall der Olympionikin. Das Regime scheint zunächst Sportler und Funktionäre vorzuschicken, um Timanowskaja zu diskreditieren: Das olympische Komitee (NOK) des Landes nannte sie emotional und psychisch nicht in der Lage, weiter in Tokio zu starten. Das Staatsfernsehen stellte sie als Versagerin hin, nannte ihre Geschichte "widerlich". Auch einige offenbar linientreue Sportler tauchten in den Medien auf und kolportierten die Theorie, Timanowskaja habe den Eklat von Anfang geplant.

Wie vorsichtig man mit solchen Zitaten sein muss, zeigt das Beispiel der Ringerin Maria Mamoschuk, die 2016 in Rio Silber gewonnen hatte. Eine regionale Zeitung zitierte sie mit fast denselben Worten, die im Staatsfernsehen über Timanowskaja zu hören waren. Sie habe nie mit der Zeitung gesprochen, erklärte Mamoschuk daraufhin.

Viele Athleten haben Kristina Timanowskaja dagegen offen unterstützt. Die "Leute auf den Führungsposten im Sport" seien der Ansicht, schrieb etwa Basketballerin Jekaterina Snytina auf Instagram, dass die Sportler dem Staat "alles zu verdanken" hätten, arbeiten und dabei schweigen sollten. "Sie denken, dass sie über das Schicksal des Sportlers ohne dessen Wissen entscheiden können", schreibt sie. "Obwohl - sie denken eher gar nicht, sondern erfüllen den Befehl von oben."

Timanowskaja selbst fordert Ermittlungen gegen den belarussischen Cheftrainer. Sie erwarte von den Sportbehörden, "die Situation zu untersuchen, wer hat die Anweisung gegeben, wer hat wirklich die Entscheidung getroffen, dass ich nicht mehr teilnehmen darf", sagte sie der Nachrichtenagentur AP. Der Ehemann der Sprinterin ist bereits in die Ukraine geflohen.

Erhängt während einer Jogging-Runde

Ein anderer Fall zeigt allerdings, dass sich Belarussen auch im Ausland nicht sicher fühlen können: In Kiew wurde der Aktivist Witali Schischow tot aufgefunden, erhängt in einem Park unweit seiner Wohnung. Der 26-Jährige war im Herbst in die Ukraine geflohen und hatte von dort anderen Flüchtlingen geholfen. Er leitete die Organisation "Belarussisches Haus in der Ukraine", die sich etwa um Aufenthaltsgenehmigungen und Unterkünfte kümmert. Am Montag war er von einer Jogging-Runde nicht zurückgekehrt.

Die ukrainische Polizei erklärte, sie habe Ermittlungen eingeleitet und verfolge auch die Möglichkeiten von "Mord, getarnt als Selbstmord". Das Belarussische Haus schrieb auf Telegram, Schischow sei überwacht worden, zudem habe es wiederholt Warnungen von lokalen Quellen und belarussischen Kontakten gegeben - auch vor "Entführungen und Liquidation". Die Organisation vermutete den belarussischen Geheimdienst hinter dem Mord.

"Ich würde sagen, es war ein Verbrechen", sagte Swetlana Tichanowskaja bei ihrem Besuch in London über Schischows Tod, sie wolle aber die Ermittlungen abwarten. Sie verstehe, so die Oppositionsführerin, dass auch sie "jeden Moment" verschwinden könne. Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell äußerte sich "geschockt" über Schischows Tod und lobte die ukrainischen Behörden für die schnelle Aufnahme der Ermittlungen.

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