Süddeutsche Zeitung

Jesiden im Irak:Ein Volk, verfolgt als "Teufelsanbeter"

Lesezeit: 3 min

Kinder verdursten, es gibt Berichte über verschleppte Frauen und Tötungen: Kaum eine Minderheit wird von der Terrormiliz Islamischer Staat im Irak so gnadenlos verfolgt wie die Jesiden. Noch immer sitzen Zehntausende auf dem Berg fest. US-Flugzeuge versuchen, ihre Not zu lindern.

Von Isabel Pfaff

Die Abgeordnete braucht kein Mikrofon, um den Sprecher des Parlaments zu übertönen. Unter Tränen ruft sie in den Saal: "Unsere Männer werden abgeschlachtet, unsere Frauen werden als Sklavinnen verkauft." Der Sprecher versucht, die Parlamentarierin zu unterbrechen, doch Vian Dakhil lässt sich nicht stoppen. "Kommt uns zu Hilfe!", ruft sie ihren Abgeordneten-Kollegen zu.

Vian Dakhil ist Jesidin - die einzige im irakischen Parlament. Die Jesiden sind weder Christen noch Muslime, sie bilden eine kleine religiöse Minderheit, in die man nur hineingeboren werden kann. Als Dakhil an diesem Mittwoch in Bagdad das Wort ergreift, sitzen Zehntausende Angehörige ihres Volkes im Sindschar-Gebirge im Norden des Irak fest.

Kämpfer der Islamistengruppe Islamischer Staat (IS) haben am Wochenende die Stadt Sindschar gestürmt. Ohne ausreichend Wasser oder Nahrung flohen etwa 40 000 Menschen, vorrangig Jesiden, vor dem Horror der Islamisten - ohne Wasser, ohne Nahrung. Wer sich aus dem Gebirge hinabwagt, läuft den IS-Kämpfern direkt in die Arme. Sie betrachten die Jesiden als Ketzer, sogar als Teufelsanbeter. Und stellen sie vor die Wahl: Konvertieren oder Tod.

Überlebende berichten von Enthauptungen

Mit Sindschar drangen die Islamisten erstmals in jenes Gebiet ein, in dem die meisten der weltweit etwa 800 000 Jesiden leben - schätzungsweise mehr als 500 000. Geflohene, die sich vor den Kämpfern in Sicherheit bringen konnten, berichten von Hunderten Exekutionen, sogar Enthauptungen. Die Terroristen hätten bei ihrer Offensive Mädchen und Frauen vergewaltigt und verschleppt. Mehrere hundert Jesidinnen seien gefangen genommen worden, teilte ein Sprecher des irakischen Menschenrechtsministeriums mit. Er berief sich auf die Familien der Entführten.

In einem CNN-Interview erzählt die Jesidin Zahra Jardo von der aussichtslosen Situation der Flüchtlinge, die weiterhin in den Bergen eingekesselt sind. "Die, die noch immer dort sind, leiden unter schrecklichem Durst, es gibt kein Wasser." Ein anderer Überlebender berichtet, dass die Islamisten die Bergstraßen blockieren und den Flüchtlingen so die Wege abschneiden. Nach Information des UN-Kinderhilfswerks Unicef sind in den vergangenen Tagen bereits 40 Kinder im Zuge der Vertreibungen und des Wassermangels gestorben.

US-Flugzeuge versuchen seit der Nacht auf Freitag, die Not der Geflohenen im Gebirge zu lindern. In zwei Wellen, so teilte das Pentagon mit, haben Frachtmaschinen etwa 30 000 Mahlzeiten und Wassercontainer über den Sindschar-Bergen abgeworfen. Bisher gibt es kaum Informationen darüber, ob die Lebensmittel die festsitzenden Menschen dort wirklich erreichen. Nach Angaben des US-Verteidigungsministers Chuck Hagel sind die Pakete bei den Flüchtlingen angekommen.

Auch die kurdischen Zufluchtsorte sind mittlerweile in Gefahr

Nicht alle Jesiden aus Sindschar sind in die Berge geflohen. Ein Teil von ihnen hat es nach Erbil und Dohuk geschafft - Städte in der autonom regierten kurdischen Provinz des Irak. Zu Fuß oder in langen Autoschlangen gelangten sie in Erbil an, Hauptstadt der Kurden-Region und wichtiger Zufluchtsort für verfolgte irakischen Minderheiten wie Jesiden oder Christen.

Doch die Islamisten setzen ihre Offensive in Richtung Erbil fort. Die kurdischen Kampftruppen, Peschmerga genannt, halten die Hauptstadt noch, allerdings wird der Druck größer. Der Vormarsch der IS-Milizen war auch Anlass für Us-Präsident Barack Obama, Luftangriffe im Norden des Irak anzuordnen. Sie würden dem Schutz von US-Diplomaten und Militärberatern in Erbil dienen, so Obama in seiner wöchentlichen Radio-Ansprache. Die US-Streitkräfte haben mittlerweile schon eine zweite Angriffswelle auf Stellungen der Extremisten geflogen.

Fluchtkorridore für die Vertriebenen

Angeblich stehen die USA zudem mit der irakischen Regierung in Kontakt, um die verbündeten kurdischen Truppen militärisch auszurüsten. US-Angaben zufolge ist eine Frachtmaschine der irakischen Regierung mit Munition für Kleinfeuerwaffen nach Erbil gebracht worden.

Zur Evakuierung der geflohenen Jesiden und der übrigen Zivilisten wollen die Vereinten Nationen einen humanitären Korridor einrichten. Das kündigte der UN-Gesandte im Irak, Nickolay Mladenov, an. In der Zwischenzeit ist es offenbar kurdischen Truppen aus dem Irak, Syrien und der Türkei gelungen, Tausende der jesidischen Flüchtlinge in der Region um Sindschar ins benachbarte Syrien zu evakuieren.

Einem Bericht der Washington Post zufolge haben kurdische Militärs einen Korridor in Richtung der irakisch-syrischen Grenze geschaffen. Man habe die Zivilisten in syrische Flüchtlingscamps transportieren oder sie sicher zurück in die irakische Kurdenregion bringen können. Nach Angaben der kurdischen Truppen seien etwa 20 000 Menschen aus der Region gerettet worden - allerdings sind darunter nur wenige aus der Gruppe derer, die in den Bergen ausharren.

Mit Material von AFP, dpa und Reuters.

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