Süddeutsche Zeitung

Selbstmordanschlag:Eine Bombe, die den Irak erschüttert

Bei einem Attentat der Terrormiliz Islamischer Staat sterben auf einem Markt in einem schiitischen Viertel Dutzende Menschen. Das Ziel der Täter ist offenbar, religiöse Konflikte zu schüren.

Von Paul-Anton Krüger, München

Die Menschen waren gekommen, um einzukaufen für das Opferfest, die höchsten Feiertage der Muslime. Sie drängten sich am Montagabend in den engen Gassen des Al-Wahailat-Marktes von Sadr City. Kinderkleidung und Schuhe bieten die Händler hier an, Fleisch, das sich viele nur noch an einem Festtag leisten können, Süßigkeiten und Spielzeug - Geschenke für die Kinder.

Arglos und in Vorfreude auf das Fest werden sie überrascht: Eine Bombe explodiert, reißt mindestens 35 Menschen in den Tod. Es ist der schwerste Anschlag in Bagdad seit mehr als drei Jahren. "Frauen lagen blutüberströmt auf dem Boden, andere riefen verzweifelt nach ihren Kindern", berichtet ein Augenzeuge - etwa die Hälfte der Opfer sind Frauen und Kinder. Dutzende werden verletzt. Etliche kämpfen noch um ihr Leben. Das Innenministerium spricht von einem lokal hergestellten improvisierten Sprengsatz. Premierminister Mustafa al-Kadhimi berief eine Krisensitzung des Sicherheitskabinetts ein und kündigte eine Untersuchung an.

In der Nacht dann reklamiert die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) auf einem einschlägigen Kanal des Nachrichtendienstes Telegram die heimtückische Tat für sich. Ein Selbstmordattentäter habe seine Sprengstoffweste gezündet. Beweise für die Täterschaft enthält das Statement nicht, es ist allerdings plausibel. Westliche Geheimdienste beobachten, dass sich die Gruppe im Untergrund neu formiert und wieder vermehrt Anschläge im Irak verübt.

Bereits im April hatten die Dschihadisten an einem anderen Markt des Viertels eine Autobombe gezündet. Damals wurden vier Menschen getötet. Bei einem Anschlag auf einen Markt für Second-Hand-Kleidung im Januar in einem anderen Teil Bagdads starben 32 Menschen. Auch in anderen Landesteilen kommt es zu Attacken.

Viertel des verehrten Großajatollah

Es ist kein Zufall, dass sunnitische Extremisten Sadr City angreifen: Der Stadtteil im Norden Bagdads ist die Hochburg des radikalen schiitischen Predigers Muqtada al-Sadr, einer der mächtigsten politischen Figuren im Irak. Er kontrolliert die größte Fraktion im Parlament. Das Viertel heißt nach seinem Vater, dem weithin verehrten Großajatollah Mohammad al-Sadr, den 1999 vermutlich Schergen des damaligen Diktators Saddam Hussein in Nadschaf ermordeten. Sadrs Macht geht auf die Gefolgschaft vieler Schiiten gegenüber seinem Vater zurück.

Wer hier Bomben legt, der will zwei Monate vor der für den 10. Oktober angesetzten Parlamentswahl die konfessionellen Konflikte im Irak anheizen. Sadr kämpfte einst mit seiner vor allem unter den armen Bewohnern des Viertels rekrutierten Mahdi-Armee einen Guerilla-Krieg gegen die amerikanische Besatzungsmacht, aber auch gegen radikale sunnitische Aufständische. Schiitische Todesschwadronen machten Jagd auf sunnitische Zivilisten. Später beteiligten sich seine Milizionäre am Kampf gegen den IS.

Bei der Parlamentswahl im Mai 2018 holte die von Sadr geführte Reformkoalition Sa'irun nach starken Zugewinnen 54 der 329 Sitze. Sadr hatte zuvor die Massenproteste junger Iraker unterstützt, seine Anhänger standen bei Straßenschlachten mit der Polizei in der ersten Reihe. Nicht minder entschieden als den USA tritt Sadr dem wachsenden Einfluss Irans entgegen. Die Revolutionsgarden kontrollieren mehrere der kampfstärksten Milizen im Nachbarland und haben in mehreren schiitischen Parteien großen Einfluss.

Die Aufteilung politischer Ämter gemäß einem Proporz der Religions- und Volksgruppen, auf Arabisch Muhasasa genannt, gilt vielen Irakern als Wurzel der grassierenden Korruption. Sie sollte nach dem Sturz Saddam Husseins durch die Amerikaner politische Teilhabe für alle Gruppen im Irak garantieren, doch erwuchs daraus ein System, in dem Politiker ihre Ämter dazu missbrauchen, ausschließlich ihre Klientel aus Kassen des Staates zu alimentieren. Gegen dieses System richteten sich die überwiegend jungen Demonstranten, deren Proteste brutal niedergeschlagen wurden - wiederum unter Beteiligung der von Iran gesteuerten Milizen.

Zwar trauen sich heute viele Menschen nicht mehr auf die Straße, weil bei den Kundgebungen scharf geschossen wurde und immer wieder Aktivisten ermordet werden - auch dahinter werden oft schiitische Milizen vermutet, die dank ihrer Macht vom Staat meist nicht belangt werden. Doch brodelt es unter der Oberfläche gewaltig. Bei einem Brand in der Corona-Station eines Krankenhauses in Nasiriya im Südirak wurden vor Kurzem mehr als 60 Menschen getötet, nachdem Ende April in Bagdad bei einem ähnlichen Vorfall schon mehr als 80 Menschen umgekommen waren.

Strom fällt aus bei 50 Grad Celsius

Das Gesundheitswesen ist unterfinanziert und leidet nach Jahren des Krieges unter der Abwanderung von Ärzten und qualifiziertem Pflegepersonal, was die Probleme in der Corona-Pandemie noch verschärft. Patienten müssen oft von Verwandten mit Essen und Medikamenten versorgt werden. Dazu kommen Stromausfälle in weiten Teilen des Landes bei Sommertemperaturen von teils mehr als 50 Grad Celsius. Millionen Iraker haben zudem keine Versorgung mit trinkbarem Wasser.

Die Armut greift in dem an Öl reichen Land um sich - 27 Prozent der etwa 40 Millionen Iraker leben nach offiziellen Angaben unter der Armutsgrenze, 30 Prozent der Jugendlichen haben keine Arbeit - im Irak sind 58 Prozent der Bevölkerung jünger als 25 Jahre. Mehr als sieben Millionen beziehen ein Gehalt oder Pensionen vom Staat, doch seit dessen Einnahmen laut der Weltbank im vergangenen Jahr um fast die Hälfte eingebrochen sind, zahlt die Regierung unregelmäßig, oft auch gar nicht. Im Dezember wertete die Regierung zudem den Dinar gegenüber dem Dollar um 20 Prozent ab, was importierte Lebensmittel und Produkte für viele Menschen endgültig unerschwinglich machte.

"Terrorismus und das Versagen der Regierung stehlen uns weiter unsere Leben", schrieb der Aktivist Alaa Sattar auf Twitter. Außer zu kondolieren und leere Untersuchungskomitees einzusetzen, falle den Autoritäten nichts ein. Sadr entzog bereits nach dem Brand in Nasiriya Kadhimis Regierung seine Unterstützung und kündigte an, nicht an den Wahlen im Herbst teilzunehmen und auch keine künftige Regierung zu unterstützen. Er tue dies, um zu retten, was vom Land noch zu retten sei, sagte er in einer Fernsehansprache.

Was das genau heißt, darüber rätseln auch Experten im Irak noch. Sadr war auch bei der Wahl 2018 nicht selbst angetreten und doch deren Gewinner. Die Aussichten von Premier Kadhimi auf eine Wiederwahl allerdings sind damit deutlich gesunken. Der ehemalige Geheimdienstchef hat versucht, die Milizen einzuhegen, ein Gleichgewicht zwischen Iran und den USA zu wahren und sich als regionaler Vermittler etwa zwischen Saudi-Arabien und Iran unentbehrlich zu machen.

Nächste Woche wird er im Weißen Haus erwartet; angeblich soll es dann auch um den Rückzug der noch im Irak stationierten 2500 US-Soldaten gehen, die konstanten Angriffen mehrerer von Iran gesteuerter Milizen ausgesetzt sind. Den Kampf gegen den IS würde das unterminieren. Ein Wahlsieg schiitischer Parteien, die eng mit Teheran verbunden sind, würde die Polarisierung des Landes noch weiter verschärfen. Mahnende Stimmen warnen schon, dass Irak in kleinen Schritten einem neuen Bürgerkrieg entgegengeht.

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