Süddeutsche Zeitung

Frankreich:Rente erst mit 64 - notwendig oder brutal?

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Präsident Macron will seine umstrittenen Umbaupläne für die Altersversorgung durchs Parlament bringen, die Gegner rufen in dieser Woche gleich zwei Mal zum Großstreik auf. Braucht das Land die Reform wirklich?

Von Kathrin Müller-Lancé, Paris

Die kommenden Tage dürften anstrengend werden in Frankreich. Für die Abgeordneten in der Nationalversammlung, die seit dieser Woche über die umstrittene Rentenreform debattieren und sich durch nächtliche Sitzungen und Tausende Änderungsanträge kämpfen müssen. Für die linken Parteien und Gewerkschaften, die in dieser Woche gleich zwei mal möglichst viele Leute gegen die Reform auf die Straße bringen wollen. Nicht zuletzt wird es anstrengend für die Französinnen und Franzosen, die zwar nicht demonstrieren gehen, die aber durch die Großstreiks an diesem Dienstag und am Samstag ausgebremst werden, weil Züge und Metros nicht fahren und Schulen geschlossen sind.

Frankreich steckt mittendrin in der Diskussion um die unbeliebte Rentenreform. Die Regierung von Emmanuel Macron will unter anderem das gesetzliche Renteneintrittsalter erhöhen, von bisher 62 auf 64 Jahre, und die Beitragsdauer, die es braucht, um die volle Rente ohne Abzüge zu bekommen, schneller als bisher vorgesehen auf 43 Jahre anheben. Nicht nur bei der Opposition im Parlament kommen die Pläne schlecht an, sondern auch in der Bevölkerung. Schon zwei Mal gingen in den vergangenen Wochen mehr als eine Million Menschen gegen die Reform auf die Straße, Umfragen zufolge sind nach wie vor mehr als zwei Drittel der Französinnen und Franzosen gegen das Vorhaben.

Die Reform sei notwendig, um das Rentensystem langfristig zu garantieren, verteidigt sich die Regierung. Die Reform sei zu brutal und gar nicht nötig, sagen die Kritiker. Wie steht es wirklich um das französische Rentensystem?

Franzosen leben lange und gehen früh in den Ruhestand

Die Regierung stützt sich bei der Verteidigung ihrer Pläne auf den Bericht eines Expertengremiums, das sie selbst beauftragt hat. Der sogenannte Rentenorientierungsrat hat berechnet, dass das französische Rentensystem zwar in den Jahren 2021 und 2022 ein leichtes Plus verzeichnet hat, langfristig aber zu einem Defizit in den Staatskassen führen wird. Eine konkrete politische Forderung spricht das Gremium nicht aus. "Es ist je nach politischer Präferenz legitim zu fordern, dass es eine Reform des Rentensystems braucht oder nicht", heißt es in dem Bericht.

"Es stellt sich aber schon die Frage, wie man das Rentensystem langfristig anpassen kann, wenn die Bevölkerung immer älter wird", sagt Hervé Boulhol, Rentenexperte bei der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD). Frankreich gehört zu den Ländern mit der höchsten Lebenserwartung in Europa, Frauen werden hier im Schnitt 86 Jahre alt, Männer 79. Dafür scheiden die Französinnen und Franzosen im internationalen Vergleich verhältnismäßig früh aus dem Arbeitsleben aus, Frauen mit 60,9 Jahren, Männer mit 60,4 Jahren. Der Durchschnitt der OECD-Länder liegt bei 62,4 Jahren für Frauen und bei 63,8 Jahren für Männer.

Dass viele Menschen in Frankreich schon vor dem bisherigen Renteneintrittsalter von 62 Jahren aufhören zu arbeiten, hat unter anderem mit den vielen Sonderregelungen des Rentensystems zu tun. Wer besonders früh angefangen hat zu arbeiten, also mit 16 oder 18 Jahren, durfte bisher auch früher als mit 62 Jahren in Rente gehen. Dieses Prinzip will die Regierung bei ihrer Reform weitestgehend beibehalten. Abschaffen will sie hingegen einen Großteil der régimes spéciaux, der Sonderregelungen für einzelne Berufsgruppen. Bei den Pariser Verkehrsbetrieben konnten Metrofahrer bisher zum Teil schon mit 52 Jahren in Rente gehen, das soll künftig nicht mehr möglich sein.

Die Renten sind höher als in Deutschland, die Beiträge auch

"Noch ist Frankreich mit dem regulären gesetzlichen Renteneintrittsalter von 62 Jahren nicht so weit unter dem europäischen Durchschnitt", sagt der Rentenexperte Hervé Boulhol. "Aber sehr viele andere Länder haben schon entschieden, das Eintrittsalter anzuheben. Wenn das in Frankreich nicht passiert, wird der Abstand zu den anderen immer größer werden."

Den französischen Rentnerinnen und Rentnern geht es im internationalen Vergleich ziemlich gut. Laut OECD bekommen sie in der Rente im Schnitt fast drei Viertel ihres ehemaligen Nettoeinkommens ausgezahlt. In Deutschland sind es etwa 53 Prozent, im OECD-Durchschnitt 62 Prozent. Der OECD-Experte Boulhol mag es trotzdem nicht, wenn man von einem "großzügigen" System spricht. Schließlich zahlen die Franzosen vor der Rente auch entsprechend hohe Beiträge, im Durchschnitt 28 Prozent ihres Einkommens. In Deutschland sind es gerade einmal 18 Prozent.

Auch das Klischee, dass die Franzosen weniger arbeiten als die Deutschen, ist beim Blick auf die Zahlen schnell entkräftet. In beiden Staaten arbeiten die Erwerbstätigen im Schnitt deutlich weniger als der Durchschnitt der OECD-Länder. In Frankreich sind es etwa 1500 Arbeitsstunden pro Jahr, in Deutschland 1350. "Es stimmt, dass Frankreich Probleme mit der Beschäftigungsquote bei jungen und bei alten Menschen hat. Ansonsten kann man aber nicht sagen, dass die Franzosen weniger arbeiten als die Deutschen", sagt Boulhol.

Was ihre Reformpläne angeht, hat die französische Regierung bereits Zugeständnisse gemacht. Am vergangenen Wochenende kündigte Premierministerin Élisabeth Borne an, dass auch diejenigen schon mit 63 Jahren in Rente gehen können sollen, die mit 20 und 21 Jahren angefangen haben zu arbeiten. Das sah der bisherige Entwurf nicht vor. Die konservativen Republikaner, auf deren Unterstützung die Regierung im Parlament angewiesen ist, scheint das nicht zu überzeugen. Bornes Ankündigung sei "eine Täuschung, die weder den Republikanern noch den Franzosen nutzt", schrieb der Vize-Vorsitzende der Republikaner, Aurélien Pradié, auf Twitter.

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