Süddeutsche Zeitung

Europäische Union:Die Konferenz, die Europa verändern soll

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Von Mai an können die Bürger mitbestimmen, wie die EU künftig aussieht. Doch zwölf Regierungen haben bereits klargemacht, dass sie sich zu nichts verpflichten lassen wollen. Scheitert das Projekt, bevor es richtig begonnen hat?

Von Matthias Kolb, Brüssel

Die Ideen von jungen Menschen sollen eine zentrale Rolle dabei spielen, die Europäische Union für künftige Herausforderungen zu rüsten. Am 9. Mai kann die "Konferenz für die Zukunft Europas", das lange angekündigte Projekt zur Bürgerbeteiligung, endlich beginnen, nachdem die 27 EU-Staaten ihren oft kleinlichen Streit mit der EU-Kommission und dem Europaparlament beigelegt haben. Zu bereden gibt es genug: Die Corona-Pandemie hat viele Schwächen der EU aufgedeckt.

"Wir müssen Ideen entwickeln, Lust auf die Zukunft machen und sollten auch vor großen, ungewöhnlichen Ideen nicht zurückschrecken", sagt etwa Manfred Weber, der Fraktionschef der Europäischen Volkspartei (EVP) im EU-Parlament. Er vertritt die Christdemokraten im Exekutivausschuss, in den jede EU-Institution drei Vertreter entsendet. An diesem Mittwoch wollen die neun Mitglieder die Geschäftsordnung der Konferenz beraten und den weiteren Ablauf festzurren.

Im Entwurf der Geschäftsordnung, der vom liberalen EU-Abgeordneten Guy Verhofstadt verfasst wurde und der Süddeutschen Zeitung vorliegt, steckt noch viel von jenem Ehrgeiz, der nach der Europawahl 2019 zu spüren war. Die Konferenz soll den Bürgerinnen und Bürgern "eine Rolle darin geben, die künftige Politik und die Ambitionen der EU zu formen" und auch Anregungen geben, wie Europa auf Herausforderungen reagieren soll, heißt es in Artikel 2.

Ein Kernstück bilden vier Bürgerkonferenzen, die in der zweiten Jahreshälfte in Brüssel, Straßburg, Florenz und Warschau stattfinden sollen. An jeder sollen 235 zufällig ausgewählte Menschen teilnehmen, und "mindestens ein Drittel wird aus jungen Leuten zwischen 16 und 25 Jahren" bestehen. Jedes EU-Land muss mindestens eine Frau und einen Mann entsenden, und die Zahl der Vertreter folgt der Sitzverteilung im Europaparlament: Deutschland wird also die größte Delegation entsenden, aber anteilig schlechter repräsentiert sein als etwa Luxemburg oder Malta. Mitte April soll die "interaktive mehrsprachige digitale Plattform" fertig sein, über die Bürger und Interessenvertreter ihre Ideen einreichen können.

Macron will die Ideen-Konferenz für seine Wiederwahl nutzen

Im SZ-Gespräch äußert Weber eine Vermutung, die sich aus den Gesprächen während der Pandemie speist: "Gerade im Gesundheitswesen erwarten die Menschen ein funktionierendes Europa." Er hält seine Forderung aufrecht, notfalls den Export von in der EU produzierten Vakzinen zu untersagen, damit diese hier verimpft werden können: Das "Sommer-Versprechen" müssten die Politiker in der EU einhalten. Wenn die Bürgerwünsche identifiziert seien, müsse man die Strukturen ansehen, um zu klären, ob die EU fit genug sei für die Herausforderungen. Als letzter Schritt sei zu prüfen, ob dafür die Rechtsgrundlagen ausreichen oder die Verträge geändert werden müssen. Für eine Gesundheitsunion, wie sie Weber vorschwebt, wäre dies nötig - und die Zustimmung aller EU-Mitglieder erforderlich. Dies gilt zurzeit als ziemlich unvorstellbar.

Trotz Corona hofft der CSU-Vize auf eine "Dynamik", die zu Resultaten führe. Dabei könne helfen, dass Frankreichs Präsident Emmanuel Macron die Zukunftskonferenz für seine Wiederwahl nutzen will, meint er. Macron brauche schließlich Ergebnisse und stehe für mehr Integration. Auf Druck aus Paris soll die Konferenz schon im Frühjahr 2022 einen Bericht mit Vorschlägen präsentieren, was Weber nicht stört: "Wir werden uns nicht von den Langsamsten und Zögerlichsten bremsen lassen, die Zeit der Blockade einzelner Mitgliedstaaten ist vorbei."

Skeptischer ist Martin Schirdewan, der Co-Fraktionschef der Linken im Europaparlament: "Wir brauchen eigentlich einen demokratischen Neustart und eine grundlegende Überarbeitung der EU." Er kritisiert, dass der Prozess bei den Bürgerkonferenzen nicht völlig offen sei, sondern Themen vorgegeben seien. Auch wenn das Spektrum sehr breit sei - es reicht von Klimaschutz, Migration, Wirtschaft und sozialer Gerechtigkeit bis zu europäischer Demokratie und digitaler Transformation - und laut Entwurf "die Diskussionen nicht begrenzt werden" sollen, so fürchtet er doch, dass wichtige Fragen verdrängt werden: etwa die wachsende soziale Ungleichheit oder die Angriffe auf den Rechtsstaat in mehreren EU-Ländern.

"14 von 27 EU-Staaten stehen auf der Bremse"

Als "extrem kurz" bezeichnet Schirdewan die vorgesehene Zeit, um die Zivilgesellschaft gut einzubinden. Die Linke nehme sich daher vor, die Perspektiven von Gewerkschaften, der Klima- und Umweltbewegung sowie Geflüchteten in die Debatten einzubringen. Anders als Weber fürchtet Schirdewan, dass es den Regierungen gelingen werde, Reformen zu blockieren. Er verweist auf einen Brief von zwölf EU-Ländern, zu denen neben vielen Ost- und Nordeuropäern auch Österreich und die Niederlande gehören, und in dem "rechtliche Verpflichtungen" aus der Konferenz abgelehnt werden. "Mit Ungarn und Polen sind die größten Störer gar nicht dabei, also stehen mindestens 14 von 27 Staaten auf der Bremse", klagt Schirdewan.

Große Hoffnungen setzt Weber auf die nationalen Parlamente, die Vertreter von Regierung und Opposition in das Plenum der Konferenz entsenden werden, das am 10. Mai erstmals tagt: "Das sind unsere Partner, um Europa schlagkräftiger zu machen." Diese Vollversammlung kann auch Unterausschüsse einsetzen, um die Ideen konkreter zu machen, damit diese nach dem Frühjahr 2022 in Gesetzesinitiativen münden können.

Weber, der 2019 als Spitzenkandidat für die EVP angetreten war, bevor die Staats- und Regierungschefs Ursula von der Leyen an die Spitze der EU-Kommission setzten, liegt besonders das Thema der Demokratisierung am Herzen: "Wir müssen vor der Europawahl 2024 wieder Vertrauen aufbauen, damit die Wählerinnen und Wähler wissen, welchen Einfluss ihre Stimme hat." Eine Diskussion über transnationale Listen zur Europawahl und das Spitzenkandidatenprinzip hält der Linke Schirdewan nicht für zentral: "Das wären nur kosmetische Änderungen und die Reaktion auf eine Debatte aus der Vergangenheit."

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