Süddeutsche Zeitung

EU-Verteidigung:Prioritäten und Bedrohungen

Lesezeit: 2 min

Die Mitgliedstaaten wollen bis März 2022 einen neuen "strategischen Kompass" in der Sicherheitspolitik beschließen.

Von Matthias Kolb, Brüssel

Es war ein Zeichen der Wertschätzung, das Charles Michel am Freitagmorgen Jens Stoltenberg zuteil werden ließ. Seite an Seite präsentierten sich der EU-Ratspräsident und der Nato-Generalsekretär vor der Debatte des EU-Gipfels über Verteidigung und Sicherheit. "Mehr als 90 Prozent der Menschen, die in der Europäischen Union leben, leben in einem Nato-Land", sagte Stoltenberg. Er nannte dies als Beleg für eine noch engere Kooperation, genau wie die ähnlichen Bedrohungen. Als relevante Themen nannte er die Erhöhung der Widerstandsfähigkeit kritischer Infrastrukturen, Cyberangriffe oder die Folgen des Klimawandels.

Auch Michel sprach von ähnlichen Prioritäten und Bedrohungen, auch wenn er anders als Stoltenberg den Aufstieg Chinas zur Weltmacht nicht erwähnte. Dass der Nato-Chef an der Videokonferenz vom gleichen Raum aus wie Michel teilnehmen durfte, war auch ein Signal in Richtung Washington. "Ich bin überzeugt, dass starke Partnerschaften starke Partner erfordern", sagte Michel. Eine stärkere EU führe zu einer stärkeren Nato.

Das von den Staats- und Regierungschefs abgenickte Dokument spiegelt die Brisanz des Themas nicht wirklich wieder. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron dringt auf eine größere "strategische Autonomie" der EU, was gerade in Osteuropa als unzureichend definiertes Konzept und schlimmstenfalls als Provokation Washingtons empfunden wird. Deren Sorge: Die USA könnten sich aus Europa zurückziehen, wodurch man einem stark aufrüstenden Russland ausgeliefert wäre.

Spannungen zwischen Zypern und der Türkei belasten das Verhältnis zur Nato

Sätze wie "Wir bekräftigen, dass die EU angesichts der zunehmenden globalen Instabilität mehr Verantwortung für ihre Sicherheit übernehmen muss" sind unstrittig, aber offen bleibt, wie dieses Ziel erreicht werden soll. Zu den schwierigen Details gehört auch, wie eng man an die Nato rücken will: Mit Malta, Irland, Österreich, Finnland, Schweden und Zypern gehören sechs EU-Mitglieder nicht der Allianz an. Ein enormes Hindernis sind die Spannungen zwischen dem Nato-Mitglied Türkei sowie Griechenland und Zypern. So verhindert Ankara etwa, dass die Nato mit der EU-Marinemission "Irini" kooperiert, die das Waffenembargo gegen Libyen überwacht.

Allerdings wollen beide Organisationen ihre Reformbemühungen absprechen. Wenn US-Präsident Joe Biden im Frühsommer zum Nato-Gipfel nach Brüssel kommt, dürfte eine Aktualisierung des strategischen Konzepts von 2010 in Auftrag gegeben werden. Und die EU will bis März 2022 - kurz vor der Präsidentschaftswahl in Frankreich - einen neuen "strategischen Kompass" in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik beschließen, wie Ratschef Michel mitteilte. Dieser Kompass soll klarer definieren, was die EU im Krisenfall können soll - und was nicht. Unter der deutschen EU-Ratspräsidentschaft wurde deswegen Ende 2020 eine Bedrohungsanalyse erstellt. Für dieses Geheimdokument haben die nationalen Nachrichtendienste beschrieben, welche Gefahren etwa von China oder Russland ausgehen könnten.

Eine geopolitische Botschaft in Richtung Moskau hatte Michel bereits am Donnerstagabend übermittelt, als er für alle 27 EU-Staaten erklärte: "Wir verurteilen, wie Alexej Nawalny behandelt wird und verlangen seine sofortige Freilassung." Er machte klar, dass in der nächsten Woche erstmals das neue EU-Menschenrechtsregime angewendet wird. Dann dürften vier hochrangige Mitglieder des russischen Justizapparats für ihre Rolle bei Nawalnys Verurteilung und Inhaftierung mit Kontensperrungen und Einreiseverboten bestraft werden.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5219361
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.