Süddeutsche Zeitung

Afghanistan:Nato und EU reagieren hilflos

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Sie drohen den Taliban mit außenpolitischer Isolation und weniger Entwicklungshilfe. Aber das dürfte die Islamisten nicht beeindrucken - und Europa könnte eine neue Zerreißprobe bevorstehen.

Von Björn Finke

Die Warnungen aus Brüssel wirken reichlich hilflos. Nach einem Treffen mit den Botschaftern der Mitgliedstaaten drohte Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg den Taliban in Afghanistan: "Wenn sie das Land mit Gewalt einnehmen, werden sie von der internationalen Gemeinschaft nicht anerkannt werden" als Regierung. Die Nato unterstütze eine politische Lösung dieses Konflikts. Ganz ähnlich hatte sich kurz zuvor eine andere wichtige Brüsseler Institution geäußert - die EU-Kommission. Der Außenbeauftragte Josep Borrell prophezeite den Taliban "Nicht-Anerkennung, Isolation, einen Mangel an internationaler Hilfe", sollten sie in Afghanistan "erneut mit Gewalt ein Islamisches Emirat errichten".

Doch es sieht nicht so aus, als ließen sich die Taliban von einem Entwicklungshilfe-Stopp und internationaler Ächtung groß beeindrucken. Zumal es nicht ausgemacht ist, dass alle Weltmächte der Politik von Nato und EU folgen würden. So empfing Chinas Außenminister Wang Yi erst Ende Juli den Taliban-Funktionär Mullah Abdul Ghani Baradar.

Aber die EU hat eben keine anderen Druckmittel, um Einfluss zu nehmen. Immerhin hat die Europäische Union seit 2002 mehr als vier Milliarden Euro Entwicklungshilfe an Afghanistan gezahlt - kein anderer Staat hat mehr kassiert. Bei der Geberkonferenz in Genf im vorigen November sagten EU-Institutionen weitere 1,2 Milliarden Euro für die Jahre bis 2024 zu. Außenpolitiker Borrell knüpft die Unterstützung jetzt an klare Bedingungen: eine friedliche Einigung in dem Land und Respekt für die Grundrechte, auch von Frauen und Minderheiten. "Es ist von höchster Bedeutung, dass die bedeutenden Fortschritte für Frauen und Mädchen aus den vergangenen zwei Jahrzehnten bewahrt werden, inklusive des Zugangs zu Bildung", sagt der Spanier.

Andere EU-Vertreter sind pessimistisch, was diese Fortschritte angeht - und entsetzt, wie schnell die afghanische Armee zusammengebrochen ist: "Wir haben befürchtet, dass die Uhrzeiger innerhalb von zwanzig Wochen um zwanzig Jahre zurückgestellt werden, doch unglücklicherweise reichten stattdessen zwanzig Tage", sagte der italienische General Claudio Graziano, der Vorsitzende des EU-Militärausschusses, dem Nachrichtenportal Politico.

Die Lage an den Grenzen ist ruhig - noch

Hunderttausende Afghanen sind bereits vor den Kämpfen geflohen - innerhalb des Landes oder in Nachbarstaaten. An den EU-Außengrenzen hat sich das bislang nicht niedergeschlagen: Nach Angaben der Kommission wurden dort seit Jahresanfang nur gut 4000 illegale Einwanderer aus Afghanistan aufgegriffen, um die Hälfte weniger als im Vorjahreszeitraum.

Würde sich das ändern und sich die Flüchtlingskrise von 2015 wiederholen, wäre das für die Europäische Union eine weitere Zerreißprobe. Denn die Mitgliedstaaten haben sich immer noch nicht auf eine gemeinsame Asylpolitik und die faire Verteilung von Flüchtlingen verständigen können. Der zuständige Vizepräsident der EU-Kommission, Margaritis Schinas, rief am Wochenende zur Eile auf: "Die Krise in Afghanistan, aber nicht nur sie, macht es noch offensichtlicher, dass jetzt der Zeitpunkt ist, sich über den neuen europäischen Migrationspakt zu einigen", sagte der Grieche der italienischen Tageszeitung La Stampa.

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