Süddeutsche Zeitung

Coronavirus:Das sind die deutschen Hotspots

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Die meisten Landkreise und kreisfreien Städte melden weit weniger als 50 Neuinfektionen pro 100 000 Einwohner. Nur drei untersuchte Gebiete liegen an oder über der Obergrenze, auf die sich Bund und Länder einigen wollen. Die Zahlen im Überblick.

Von Christian Endt, Magdalena Pulz und Benedict Witzenberger

In Deutschland gilt das Subsidiaritätsprinzip - das bedeutet: Wenn die untere Ebene ein Problem lösen kann, greift die obere im Normalfall nicht ein. Das ist nicht nur föderal, sondern auch recht menschennah, wenn Entscheidungen nicht per se in der Hauptstadt gefällt werden, sondern im eigenen Rathaus. Und so war es auch in der Corona-Anfangszeit: Noch bevor Kanzlerin Angela Merkel oder irgendein Ministerpräsident oder eine Ministerpräsidentin Maßnahmen aus dem Hut zauberten, musste in Nordrhein-Westfalen der Heinsberger Landrat entscheiden, wie er auf die Karneval-Infektionen reagiert.

Was folgte, war der Wunsch nach einem Masterplan: Die wichtigen Entscheidungsträger und Entscheidungsträgerinnen der Bundesrepublik sollten den Kurs vorgeben und somit auch ein Zeichen setzen, wie ernst Deutschland als Ganzes die Situation nimmt. Seit dem 12. März und mehreren Wochen des Lockdowns ist nun klar: sehr ernst. Und gleichzeitig weiß man nun wohl auch: Der Corona-Flächenbrand ist für den Moment abgewandt, nun liegt die Konzentration auf den regionalen Besonderheiten.

Und das sieht auch die Beschlussvorlage zu einer Obergrenze vor, über die Bund und Länder beraten: Lockerungen der Corona-Maßnahmen, ja - allerdings mit einer Rückkehrklausel im Falle wieder steigender Neuinfektionen in den einzelnen Landkreisen. Die Länder sollen demnach sicherstellen, dass in Landkreisen oder kreisfreien Städten mit mehr als 50 Neuinfektionen pro 100 000 Einwohner innerhalb einer Woche sofort wieder ein konsequentes Beschränkungskonzept umgesetzt wird.

Forschungsgemeinschaften raten ebenfalls zu lokal angepassten Maßnahmen

Die neue Maßzahl bringt zwei Paradigmenwechsel mit sich, die sich allerdings beide schon angekündigt hatten. Zum einen sollen die Maßnahmen und Einschränkungen stärker regional differenziert werden. Schließlich verläuft die Pandemie von Ort zu Ort sehr unterschiedlich. Während es manche Landkreise etwa in Bayern und Nordrhein-Westfalen besonders schwer getroffen hat, gibt es beispielsweise in der Stadt Suhl in Thüringen insgesamt bislang nur 13 Fälle. In der vergangenen Woche ist kein einziger neuer hinzugekommen. Bereits vergangene Woche schrieben Wissenschaftler der großen Forschungsgemeinschaften Max Planck, Helmholtz, Fraunhofer und Leibniz in einer gemeinsamen Stellungnahme, dass "auch lokal unterschiedliche Maßnahmen im Rahmen einer Gesamtstrategie zur Eindämmung von Covid-19 sinnvoll" seien.

Zum Zweiten rückt nun die Zahl der Neuinfektionen in den Vordergrund. Auch das halten Experten generell für sinnvoll. Schließlich bestimmt dieser Indikator darüber, ob die Behörden in der Lage sind, die Kontakte der Infizierten aufzuspüren. Auch hierzu haben die Forschungsgemeinschaften eine Empfehlung: "Der Zielwert wird durch die Möglichkeit der lokalen Kontrolle von Infektionsherden vorgegeben", schreiben sie. Er sei "insbesondere durch die Qualität der Tracing- Methoden und Effektivität der Isolationsmaßnahmen bestimmt." Somit lässt sich eigentlich keine einheitliche Schwelle für ganz Deutschland festlegen, vielmehr kommt es darauf an, welche Zahl das jeweilige Gesundheitsamt vor Ort zu bewältigen vermag.

Der Grenzwert 50 macht nur zum Teil Sinn

50 Neuinfektionen pro 100 000 Einwohner innerhalb einer Woche - das wären umgerechnet auf ganz Deutschland mehr als 5900 bestätigte Neuerkrankungen pro Tag. Diese Größenordnung erreichte die Statistik bislang nur während weniger Tage Anfang April, als die Pandemie hierzulande auf ihrem vorläufigen Höhepunkt war. Aktuell melden die Behörden weniger als eintausend Infektionen pro Tag. Rechnerisch ist es also denkbar, dass die Fallzahlen in Deutschland auf das Sechsfache des heutigen Niveaus steigen - ohne dass der Richtwert in einem einzigen Landkreis überschritten wird. Das deutet daraufhin, dass der Schwellenwert mit 50 ziemlich großzügig angelegt ist.

Epidemiolgen raten dazu, neben der Zahl der Neuinfektionen auch die Dynamik der Entwicklung im Blick zu behalten. 50 neue Fälle sind eine gute Nachricht, wenn es in der Vorwoche noch 70 oder 80 waren. Gibt es dagegen einen Anstieg von 30 auf 50, liegt ein exponentielles Wachstum vor, das schnell außer Kontrolle geraten kann. Ausdrücken lässt sich diese Dynamik durch die Reproduktionszahl. Liegt sie unter 1, geht die Zahl der Neuinfektionen zurück.

Aber wie stehen die einzelnen Landkreise eigentlich im Moment da, sollte der Beschluss in Kraft treten?

Die Zahlen der Landkreise

Aktuell gibt es deutschlandweit zwei Kreise, die über der vereinbarten Obergrenze liegen: Greiz in Thüringen und Coesfeld in Nordrhein-Westfalen. Beispiel Greiz: Hier wurden in den vergangenen sieben Tagen 75,4 Neuinfizierte auf 100 000 Einwohner gemeldet. Betroffen sind dort vor allem Pflegeheime. In Coesfeld konzentriert sich das Infektionsgeschehen auf einen Schlachthof, der inzwischen geschlossen wurde.

Zum Vergleich: In 50 Prozent der Kreise und kreisfreien Städte gab es in der vergangenen Woche weniger als fünf Neuinfektionen pro 100 000 Einwohner, 75 Prozent liegen bei unter neun Neuinfektionen.

26 der 412 untersuchten Gebiete (die Berliner Bezirke werden gesondert betrachtet) haben in der vergangenen Woche gar keine neue Infektion festgestellt, darunter die kreisfreien Städte Cottbus, Kempten, Würzburg und Jena. Die Stadt und der Landkreis München liegen jeweils bei ungefähr 18 Fällen pro 100 000 Personen, der ehemalige Corona-Hotspot Heinsberg kommt auf zehn. Bei solch starken regionalen Differenzen ist es naheliegend, dass nicht bundesweit unter allen Umständen für alle die gleichen Regeln gelten sollten.

Allerdings sind nicht alle komplett überzeugt von einem Konzept mit regionalen Unterschieden: So äußerte sich Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow beispielsweise zur Problematik von Menschen, die außerhalb ihrer eigenen Regionen oder Bundesländer einkaufen gehen: Es mache wenig Sinn, wenn "in Sonneberg plötzlich die Bayern die Baumärkte besuchen oder die Westsachsen in Greiz". Andere Minsterpräsidenten und -präsidentinnen sehen das anders.

Mit der möglichen neuen Regelung ändert sich zwar der Entscheidungsweg - die tatsächliche Arbeit der Landkreise wird aber wohl nicht beeinflusst. Wie bisher sind die lokalen Gesundheitsämter dafür zuständig, nachzuvollziehen wie viele und welche Kontakte eine infizierte Person in den zuvorgehenden Tagen hatte. Dafür steht auch die Zahl 50 in der Beschlussvorlage - gibt es mehr Infektionen innerhalb einer Woche pro 100 000 Einwohner wird es schwer die Infektionskette nachzuvollziehen.

Die SZ hat bislang darauf verzichtet, die Fallzahlen ins Verhältnis zur Einwohnerzahl zu setzen, um irreführende Grafiken zu vermeiden. Denn die Berechnung dieser Häufigkeitszahl setzt voraus, dass das Risiko eine Ansteckung prinzipiell überall in Deutschland gleich hoch sein kann - bislang traten aber vor allem regionale Ausbrüche auf. Da diese Werte nun aber in der politischen Debatte eine Rolle spielen und die Darstellung auf Landkreisebene weniger problematisch ist, als beispielsweise im Bundesland- oder gar Staatenvergleich, verwenden wir sie jetzt auch.

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