Süddeutsche Zeitung

Corona-Krisengipfel der EU:Reaktionen auf Macrons Appell für mehr europäische Solidarität

Lesezeit: 4 min

Von Cerstin Gammelin, Berlin, Leo Klimm, Paris, und Matthias Kolb, Brüssel, Paris/Brüssel/Berlin

Vor dem Corona-Krisengipfel der EU in der kommenden Woche verlangt Frankreichs Präsident Emmanuel Macron mehr europäische Solidarität von Deutschland. Ansonsten drohten die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie überall in Europa Populisten an die Macht zu verhelfen, warnte er. "Jetzt ist der Moment der Wahrheit, in dem es darum geht, ob die Europäische Union ein politisches Projekt ist oder lediglich ein Markt", sagte er der Financial Times. "Wir brauchen Finanztransfers und Solidarität, damit Europa zusammenhält."

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) vermied es am Freitag, auf die Forderung Macrons zu antworten. Es sei "guter Brauch", dass die Kanzlerin Interviews nicht im Einzelnen kommentiere, auch solche von Präsidenten ganz wichtiger Partnerstaaten nicht, sagte Regierungssprecher Steffen Seibert. Die Kanzlerin wisse, "dass wir, so in der Mitte Europas gelegen und international vernetzt, sowohl wirtschaftlich als auch menschlich nicht gut aus dieser Krise herauskommen werden, wenn es nicht auch in ganz Europa gelingt, gut aus dieser Krise heraus zu kommen". Dieses Wissen präge "unser Handeln und unsere Bereitschaft, Solidarität zu zeigen".

Macron hatte Deutschland und den Niederlanden Egoismus vorgeworfen

Der französische Präsident hatte, nach der Haltung Deutschlands und der Niederlande in der Coronakrise gefragt, Berlin und Den Haag Egoismus vorgeworfen: "Sie sind für Europa, wenn es darum geht, die Waren zu exportieren, die sie herstellen. Sie sind für Europa, wenn es darum geht, billige Arbeitskräfte zu bekommen", sagte Macron. "Aber sie sind nicht für Europa, wenn es darum geht, Schulden zu vergemeinschaften. Das kann nicht sein."

Macron bezieht sich bei seiner dramatischen Zuspitzung auf den deutsch-französischen Streit um sogenannte Coronabonds, die auch Thema des Gipfels der Staats- und Regierungschefs am Donnerstag sein werden. Zwar konnten sich die Finanzminister der Eurozone zuletzt auf Hilfen für Länder wie Italien oder Spanien einigen, die besonders von der Viruspandemie betroffen sind und denen zugleich die wirtschaftliche Potenz fehlt, um die beginnende Rezession zu bekämpfen. Die vereinbarten Hilfen von bis zu 540 Milliarden Euro umfassen allerdings im Wesentlichen Kredite. Nicht aber gemeinsame europäische Anleihen, die es den Südländern der Eurozone ermöglichen würden, an den Finanzmärkten von der hohen deutschen Kreditwürdigkeit zu profitieren. Es gehe ihm nicht darum, bestehende Schulden der Euro-Staaten zu teilen, betonte Macron. Die Bundesregierung lehnt Coronabonds strikt ab. Weder in dieser Causa, noch beim Mehrjährigen Finanzrahmen (MFR) für die Jahre 2021 bis 2027 ist beim Gipfel mit einer Einigung zu rechnen.

Regierungssprecher Seibert ließ offen, ob die Kanzlerin zu Zugeständnissen bereit sein könnte. Sie teile "die Notwendigkeit einer europäischen Initiative, die die Wiederbelebung der Wirtschaften im Blick hat", sagte er. Merkels Koalitionspartner SPD ist dagegen zu grundsätzlichen Kurskorrekturen bereit.

"Wenn Europa die nun wirklich von keinem der Staaten verschuldete Corona-Krise nicht als Anlass für gemeinschaftlich empfundene Verantwortung nimmt, setzt es 75 Jahre Demokratie und Frieden aufs Spiel", sagte SPD-Co-Chef Norbert Walter-Borjans der S üddeutschen Zeitung. Umgekehrt liege eine große Chance in dieser Krise, und es sei an der Zeit, "jetzt endlich zu erkennen, dass ein uneiniges Europa im weltweiten Spiel von Macht und Fortschritt keine Rolle mehr spielen wird". Europa müsse sich "technologisch und digital aus der Abhängigkeit von China und den USA befreien und aus sozialem und ökologischem Fortschritt auch wirtschaftlich eine neue Vorreiterrolle entwickeln", sagte er. "Das geht nur, wenn Finanzen und Steuern ernsthaft gemeinschaftlich geregelt werden."

Macron sieht die Gefahr, dass extreme politische Kräfte profitieren, sollten die europäischen Staaten sich nicht mit Geldtransfers beistehen. "Sind wir dazu nicht imstande, werden die Populisten siegen, in Italien, in Spanien, vielleicht auch in Frankreich", sagte Macron. Selbst EU-Staaten, die derzeit mehr Finanzsolidarität ablehnten, seien nicht davor gefeit. Er spielte damit auf den Versailler Vertrag an: Nach dem Ersten Weltkrieg habe Frankreich den Fehler gemacht, Deutschland wirtschaftlich zu bestrafen, und so den Boden für die Nationalsozialisten bereitet. Daher dürften Länder wie Italien in der aktuellen Krise nicht bestraft werden - in diesem Fall dafür, dass sie sich hoch verschuldet haben. Der Präsident würdigt zwar, dass Deutschland den Nachbarn in der Pandemie hilft, indem es Patienten aufnimmt, nicht zuletzt aus Frankreich. Allerdings äußert er implizit auch Kritik an der Teilschließung der gemeinsamen Grenze.

An ihrem "European Green Deal" will Kommissionschefin Ursula von der Leyen festhalten

Die Aussagen Macrons, der nach der Corona-Pandemie auch eine Transformation des globalen Kapitalismus sowie einen starken Wunsch der Bürger nach mehr Klimaschutz erwartet, gleichen manchen Appellen, die in Brüssel zu hören sind. EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen sprach im Europaparlament am Donnerstag eine Entschuldigung aus: "Zu viele waren nicht rechtzeitig da, als Italien ganz zu Beginn Hilfe benötigte". Sie machte klar, dass sie an ihrem Hauptprojekt des "European Green Deal" festhält, denn "mit der globalen Erholung wird sich die Erderwärmung nicht verlangsamen".

Wie Ratspräsident Charles Michel will sie vor allem den EU-Haushalt für die Jahre 2021 bis 2027 zur Bewältigung der Krise nutzen. Höhere Beiträge von Nettozahlern wie Deutschland, Österreich oder den Niederlanden sollen dabei Solidarität beweisen. Denn auch wenn die Krise momentan symmetrisch sei, sagt von der Leyen: Manche Regionen werden viel länger leiden. Aus diesem Grund seien die "Prinzipien von Zusammenhalt und Ausgleich wichtiger denn je".

Klare Worte findet Jean-Claude Juncker, der frühere Chef der EU-Kommission. "Wenn wir nicht die Gelder investieren, die nötig sind, um die Wiederaufrüstung der europäischen Wirtschaft zu gewährleisten, wird im Endeffekt die Rechnung teurer ausfallen, als wenn wir jetzt das tun, was geboten ist", sagt er im Deutschlandfunk. Donald Tusk, der bis Ende 2019 Ratspräsident war, sieht Berlin in der Pflicht und warnt im Spiegel: "Der Wettbewerbsvorteil Deutschlands gegenüber anderen EU-Ländern wird nach der Krise noch größer sein als zuvor. Das empfinden viele in Europa als ungerecht und auch als Folge mangelnder Solidarität."

Besorgt ist auch Herman Van Rompuy, der während der Schuldenkrise EU-Ratspräsident war. Der Belgier drängt zur Eile: In dieser Situation gehe es um Leben und Tod, weshalb die Staats- und Regierungschefs nicht wie sonst Entscheidungen bis zum letzten Moment aufschieben dürften.

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SZ vom 18.04.2020
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