Süddeutsche Zeitung

Grüne und Afghanistan:"Ich sehe ein riesengroßes Versagen"

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Den Grünen und Annalena Baerbock bietet das Debakel in Afghanistan im Wahlkampf einerseits eine willkommene Angriffsfläche - eine neue Flüchtlingsdebatte wollen sie andererseits vermeiden.

Von Constanze von Bullion

Afghanistan ist jetzt überall bei den Grünen. Bei jedem Wahlkampfauftritt fordert Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock, Helferinnen und Helfer des deutschen Afghanistan-Einsatzes sofort aus Kabul auszufliegen, auch Streiter für die Demokratie, die durch die Taliban bedroht sind. Die Grünen, die 2001 dem deutschen Kampfeinsatz in Afghanistan zustimmten, betrachten die Bilder aus Kabul mit Entsetzen. Gleichzeitig bietet das humanitäre Debakel sechs Wochen vor der Bundestagswahl aber auch eine nicht ganz unwillkommene Angriffsfläche.

"Ich sehe ein riesengroßes Versagen. Heiko Maas hat in den letzten Jahren keine außenpolitischen Ziele formuliert, die er erreichen will. Auf fatale Weise sehen wir das jetzt in Afghanistan", sagte Baerbock der Süddeutschen Zeitung. Seit Monaten sei klar gewesen, dass Ortskräfte Schutz bräuchten. 2019 und im Juni 2021 habe ihre Partei im Bundestag eine erleichterte Ausreise beantragt, vergeblich. Union und SPD lehnten ab. "Experten haben deutlich vor den Gefahren gewarnt. Die Bundeswehr hat davor gewarnt", sagte Baerbock. "Diese Bundesregierung aber hat sich entschieden, außenpolitisch abzutauchen." Zudem habe CSU-Innenminister Horst Seehofer schnellerer Hilfe offenbar "Steine in den Weg gelegt".

Gemeint ist ein Protokoll, das der Spiegel zutage förderte. Demnach wies das Verteidigungsministerium andere Ministerien schon im April darauf hin, dass etwa 1500 Ortskräfte auszufliegen seien, viele aber keine Pässe und Identitätsdokumente besäßen. Das Auswärtige Amt schlug vor, Personalpapiere in Deutschland auszustellen. Laut Protokoll lehnten Seehofers Beamte ab: Es dürfe "keine Pauschallösung ohne individuelle Gefährdungsprüfung" geben, ein Sicherheitscheck müsse "vor Einreise abgeschlossen" sein. Das widerspricht Seehofers Darstellung, er habe die Ausreise von Ortskräften zu keinem Zeitpunkt erschwert.

Die Kandidatin richtet den Blick in die Ferne

Dass die Regierungsressorts sich nun in Schuldzuweisungen verzetteln, kommt den Grünen zupass. Gleichzeitig wollen sie aber keine neue Flüchtlingsdebatte anzetteln. Baerbock fordert zwar, afghanische Ortskräfte schleunigst zu retten, außerdem Menschen, die sich besonders für Demokratie und Menschenrechte eingesetzt haben, auch Frauenrechtlerinnen. "Wir brauchen ein Bundessonderkontingent für diese Gruppe." Von Kontingenten für sonstige Flüchtlinge aber ist keine Rede. Auch die Frage, wie viele Menschen aus Afghanistan aufgenommen werden sollten, lässt sie auf Anfrage unbeantwortet. Nicht, dass es wieder heißt, die Grünen wollten Hunderttausende ins Land holen.

Bei Ex-Außenminister Joschka Fischer klang das kürzlich anders. Angesichts des Desasters in Afghanistan sei Deutschland "zu einer großen humanitären Geste verpflichtet", sagte er bei einem Wahlkampftermin. Gemeint waren auch Asylanfragen. Baerbock hingegen richtet den Blick lieber in die Ferne. Nach Deutschland schaffe es vorerst ohnehin kaum jemand. "Die große Herausforderung erwartet doch jetzt die Nachbarländer von Afghanistan", sagte sie. "Um uns darauf vorzubereiten, müssen wir das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR finanziell und politisch weit mehr unterstützen." Man müsse "aus den Fehlern lernen, die in Syrien gemacht wurden", als trotz Massenflucht Gelder für Flüchtlingslager gestrichen worden seien. Mit anderen Worten: Nie wieder 2015. Das gilt auch bei den Grünen.

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