Süddeutsche Zeitung

Menschenrechte:"Wir verlieren sie, sie werden sterben"

Lesezeit: 3 min

Mit dem Arbeitsverbot für Frauen in NGOs vereiteln die Taliban jede sinnvolle Entwicklungshilfe. Hilfsverbände ziehen sich zurück, die Bundesregierung will gar Zahlungen aussetzen. Dem notleidenden Land droht Schlimmstes.

Von Joshua Beer

Die afghanischen Winter sind hart. Eisig kalt und voller Schneestürme. Dieser Tage läuft der Winter in Afghanistan gerade erst an. Für das, was jetzt droht, findet Inger Ashing - CEO von "Save the Children International" - klare Worte: Hunderttausende Leben würde es kosten, wenn Hilfe ausbleibt. Darunter Tausende Kinder. "Wir werden sie verlieren, sie werden sterben." Mit diesem Satz schließt Ashing ihre Rede bei einer Online-Krisenkonferenz mit anderen Hilfsnetzwerken, die ihre Arbeit in Afghanistan jäh einstellen mussten. Mitten in der womöglich schwersten Krise des Landes: Etwa drei Viertel der Bevölkerung brauchen derzeit humanitäre Hilfe zum Überleben, Millionen Menschen stehen am Rande einer Hungersnot.

Grund für den Arbeitsstopp war ein Dekret, mit dem die Taliban afghanischen Frauen die Arbeit in Hilfsorganisationen verboten haben. Nur Tage, nachdem sie ihnen den Zugang zu Universitäten versperrt hatten. Menschenrechtlerinnen sehen darin einen weiteren Schritt der Taliban, um Frauen systematisch aus dem öffentlichen Leben zu entfernen. Die Direktorin der UN Women spricht von "gnadenloser Misogynie". Noch laufen Verhandlungen mit den de-facto-Machthabern in Kabul über eine Rücknahme des Dekrets. Etliche Nichtregierungsorganisationen (NGOs) haben sich derweil zurückgezogen. Von ihnen ist einhellig zu hören: Ja, es gehe um Leben und Tod, doch die Taliban ließen ihnen keine Wahl. Auf dem Spiel stehen die Reste einer ohnehin schon heruntergefahrenen Entwicklungshilfe - und zwar langfristig.

Denn nicht nur die Arbeit liegt brach, es fließen zudem kaum noch Gelder. Das Bundesministerium für Entwicklung und Zusammenarbeit (BMZ) hat eigenen Angaben zufolge alle Hilfszahlungen gestoppt, nur laufende Kosten wie Gehälter würden ausgezahlt. Ministerin Svenja Schulze (SPD) sprach sich gar dafür aus, die Unterstützung für Afghanistan "zunächst" ganz auszusetzen. Eine endgültige Entscheidung soll "in den kommenden Tagen in enger Abstimmung mit den anderen Gebern" fallen, heißt es aus dem BMZ. Deutschland leistet nach den USA die zweithöchsten Hilfen an Afghanistan, ein Zahlungsstopp hinterließe eine große Lücke. Für 2021 hatten BMZ und das Auswärtige Amt noch 430 Millionen Euro bewilligt - bis die Taliban im August desselben Jahres die zivile Regierung von Aschraf Ghani stürzten und die Not im Land wuchs. Seitdem hat allein das BMZ 437 Millionen Euro in Hilfen investiert. Das Geld floss über NGOs, die Vereinten Nationen (UN) und die Weltbank, direkte Zahlungen an die Regierung gebe es keine, heißt es aus dem Auswärtigen Amt. Die zwischenstaatliche Entwicklungszusammenarbeit sei "vollständig ausgesetzt". Die Taliban sind international isoliert, ihre drakonischen Maßnahmen stoßen weltweit auf massive Kritik, nicht nur im Westen, sondern auch in Ländern, die muslimisch geprägt sind, wie zum Beispiel Katar.

Wenn die Bundesregierung und andere jetzt auch noch die Finanzierung humanitärer Maßnahmen suspendieren, "stellen sie sie längerfristig infrage", kritisiert Thomas Ruttig, Mitbegründer des Afghanistan Analysts Network. Es hätte seiner Meinung nach genügt, den Arbeitsstopp der NGOs mitzutragen und die Gespräche mit den Taliban abzuwarten. Für 2022 sind laut Auswärtigem Amt alle Mittel für die humanitäre Hilfe ausgezahlt worden, weitere Zahlungen stünden erst einmal nicht an. Bevor mehr bewilligt werde, müsse die Bundesregierung das Einhalten humanitärer Prinzipien prüfen. Darunter fällt auch die Gleichbehandlung der Geschlechter. Die Bundesregierung beteilige sich jedoch weiterhin an Projekten zur "Grundversorgung der afghanischen Bevölkerung", versichern die Ministerien. Es würden etwa Saatgut und Lebensmittelpakete ausgehändigt. Darüber hinaus könne die afghanische Bevölkerung auch über die UN erreicht werden, etwa dem Welternährungsprogramm oder dem Kinderhilfswerk Unicef. Allerdings haben inzwischen auch die UN Hilfsprogramme angehalten, sie wollen aber im Land bleiben.

Fast 30 Prozent der mehr als 55 000 NGO-Mitarbeitenden im Land sind dem Dachverband Acbar zufolge weiblich. Durch das frauenfeindliche Dekret der Taliban verlieren die Hilfsnetzwerke nicht nur Ärztinnen, Lehrerinnen und Hebammen, sondern auch den Zugang zur Hälfte der Bevölkerung. Denn familienfremde Männer dürfen in der Regel nicht zu Frauen ins Haus. Allerdings wird fast ein Viertel der afghanischen Haushalte von Frauen geführt, deren Männer krank, weg oder verstorben sind.

Zwar nehmen die Taliban offenbar ausländische Frauen und UN-Mitarbeiterinnen von dem Verbot aus, doch diese können die Lücke zahlenmäßig nicht füllen. Außerdem wären viele auf Übersetzerinnen angewiesen, sagt Simone Pott, Sprecherin der Welthungerhilfe, am Telefon. Die deutsche NGO beschäftigt 214 einheimische Mitarbeitende in Afghanistan, davon 44 Frauen. "Wir sind da in einem gewissen Dilemma", sagt Pott. Wenn Hilfen weiter ausbleiben, litten genau jene Menschen am stärksten, die sie benötigten. Doch man könne nicht einfach sagen: "Dann machen wir es ohne die Frauen." In der humanitären Gemeinschaft gelte der Grundkonsens, niemals nach Geschlecht, Alter oder ethnischer Zugehörigkeit zu diskriminieren.

Der Norwegian Refugee Council (NRC) geht noch einen Schritt weiter. Etwa ein Drittel seiner 1541 afghanischen Mitarbeitenden seien Frauen. Ohne die "können wir schlichtweg nicht funktionieren", schreibt eine Sprecherin. Da sei keine Entscheidung, sondern Realität. Für die Hilfsorganisationen zähle jetzt, wie sie betonen, den Taliban gemeinsam die rote Linie aufzuzeigen. Im Zahlungsstopp der Bundesregierung erkennen NGOs wie die Welthungerhilfe und die Caritas daher ein richtiges Zeichen. Zurzeit brauchen sie die Gelder ohnehin nicht, sie kaufen keine Hilfsgüter und verteilen nichts. Doch gleichzeitig hoffen alle, dass die Suspendierung vorübergehend bleibt und die Taliban doch noch einlenken.

Das Dilemma sei zurzeit "sehr groß", sagt auch Rainer Thiele, der an an der Universität Kiel zu Entwicklungshilfe forscht. Doch nachhaltige Entwicklungszusammenarbeit brauche eine "Mindestvertrauensbasis", die die Taliban nicht böten. "Sie werden auf absehbare Zeit an der Macht bleiben." Daher sei es wichtig, mit einem Zahlungsstopp frühzeitig Grenzen abzustecken, selbst wenn klar ist: "Da stehen Leben auf dem Spiel."

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