Afghanistan:Die Rache der Taliban

Afghanistan: Protest in Kabul gegen das Studierverbot für Frauen, das die Taliban kürzlich erlassen haben.

Protest in Kabul gegen das Studierverbot für Frauen, das die Taliban kürzlich erlassen haben.

(Foto: Getty Images)

Das Arbeitsverbot für Frauen in Hilfsorganisationen trifft vor allem die Bevölkerung, denn die ist auf Unterstützung aus dem Ausland angewiesen. Experten sehen in dem Schritt ein ideologisch motiviertes Manöver, um Kritikerinnen des Regimes das Leben schwerzumachen.

Von Tobias Matern

In einem Wort fasst Adam Combs die Lage zusammen: "Inakzeptabel" nennt der Mitarbeiter des Norwegian Refugee Council (NRC) die Entscheidung der afghanischen Taliban vom Wochenende, Frauen die Arbeit in Hilfsorganisationen zu verbieten. "Wir können seitdem gar nicht mehr in Afghanistan arbeiten", sagt der Regionaldirektor für Asien und Lateinamerika der SZ am Dienstag in einem Telefonat. Alle Projekte ruhten. Der NRC, eine der größten Hilfsorganisationen am Hindukusch, hat auch nach der neuerlichen Machtübernahme der Islamisten im August 2021 die Unterstützung für die Afghaninnen und Afghanen fortgesetzt. Allein im vergangenen Jahr erreichte die Organisation nach eigenen Angaben mehr als 670 000 Menschen.

Von den 1541 Angestellten des NRC sind 469 Frauen. "Ohne sie haben wir in vielen Fällen keinen Zugang zu den Hilfsbedürftigen", betont Combs. Man bemühe sich nun Tag und Nacht, um mit Vertretern der Taliban ins Gespräch zu kommen. "Aber die Taliban sind eine sehr komplizierte Organisation und ihre Entscheidungen für uns unvorhersehbar."

Die Taliban verstehen, ihre Entscheidungen lesen, sie zur Kooperation im Sinne der afghanischen Bevölkerung bewegen - das ist der internationalen Gemeinschaft derzeit unmöglich. Der Westen hatte nach dem überstürzten Abzug im vergangenen Jahr die Verbindungen auf ein Minimum reduziert. Die Taliban sind international weitgehend isoliert. Afghanisches Staatsvermögen ist eingefroren. Auch traditionell den Herrschern von Kabul nahestehende Länder wie Katar gehen inzwischen auf Distanz. Im Westen gibt es nun Überlegungen, die verbliebene Unterstützung für Afghanistan auszusetzen, wie es unter anderem Bundesentwicklungsministerin Svenja Schulze (SPD) gefordert hat.

Viele NGOs stellen ihre Arbeit ein

Nicht alle, aber viele Nichtregierungsorganisationen (NGOs) haben in Afghanistan nach dem jüngsten Taliban-Erlass ihre Arbeit ausgesetzt, sagt Melissa Cornet, die für Care International in Kabul tätig ist. Auch ihre Organisation zählt dazu. Von den 900 Menschen, die für Care in Afghanistan arbeiteten, seien 38 Prozent Frauen - ohne sie "verlieren wir buchstäblich zur Hälfte der Bevölkerung den Zugang", schreibt Cornet am Dienstag in einer Textnachricht an die SZ.

Dabei sind die Menschen in Afghanistan dringend auf internationale Hilfe angewiesen, etwa bei der Verteilung von Essensrationen. 95 Prozent der Bevölkerung haben nach Angaben der Vereinten Nationen nicht genug Nahrungsmittel. Marzia Mohammadi, die Gründerin und Chefin der Kabuler Hilfsorganisation Afghan Social Organization for Women, sagte der SZ am Dienstag, ihre NGO setze die Arbeit zunächst fort, wenn auch unter extrem erschwerten Bedingungen und in halber Mannschaftsstärke. Denn von den etwa 70 Mitarbeitenden sind 36 Frauen, die nun nicht mehr im Büro erscheinen dürfen.

Dem Arbeitsverbot für Mitarbeiterinnen in Hilfsorganisationen waren bereits zahlreiche frauenfeindliche Dekrete der Taliban vorausgegangen: Afghaninnen sollen ihren gesamten Körper verschleiern, sie sollen allein nicht mehr längere Reisen unternehmen, nicht mehr in die Universität und Mädchen von der 7. Klasse an auch nicht mehr in die Schule gehen.

Einen "Siegestaumel" hat der Afghanistan-Experte Thomas Ruttig bei den Taliban ausgemacht. Nach ihrem Erfolg über die westlichen Truppen und den Sturz der Regierung von Präsident Aschraf Ghani habe sich bei den Islamisten das Gefühl verbreitet, dass sie nicht nur diplomatisch und militärisch die Supermacht USA und ihre Verbündeten in die Knie gezwungen haben, sondern auch ideologisch. "Die Taliban glauben, der Islam und die von ihnen gelebten Werte hätten sich durchgesetzt, sie sehen sich legitimiert, den Afghanen nun ihre Version der Religion überzustülpen."

Die Taliban geben aus Ruttigs Sicht indes ein widersprüchliches Bild ab. Sie hätten das Land fester im Griff als jede andere Regierung der vergangenen 40 Jahre. "Es gibt keine organisierte Opposition, keinen Rahmen, in dem sich bislang Widerstand im großen Stil formiert." Mit dem Mittel der Repression hätten sich die Taliban als Regierungsmacht etabliert. Die Sicherheitslage habe sich für die Afghaninnen und Afghanen unter ihrer Herrschaft seit dem Kriegsende verbessert. "Was die Taliban nicht im Griff haben, ist die Wirtschaft und die soziale Situation, die ihnen nicht alleine angelastet werden kann, aber sie suchen auch keinen Ausgleich mit dem Westen, um die Lage zu verbessern", sagt Ruttig.

Allerdings betont der Experte, der für das Afghanistan Analysts Network tätig ist: "Natürlich hat sich gleichzeitig die Sicherheitslage für jene Afghaninnen und Afghanen verschlechtert, die von den Taliban verfolgt werden, weil sie eine andere Lebens- oder Gesellschaftsauffassung haben." Das nun erlassene Studierverbot für Frauen und das Arbeitsverbot für Afghaninnen bei Nichtregierungsorganisationen sähen aus "wie Teil einer Rache an diesen Menschen und gefährdet die Leben von Millionen Menschen in Afghanistan, die bereits in Armut oder dicht an deren Grenze leben", sagt Ruttig.

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