Süddeutsche Zeitung

Verfassungschutz-Chef Hans-Georg Maaßen:Steiniger Weg Richtung Ruhestand

Lesezeit: 6 min

Eigentlich war die Personalie Hans-Georg Maaßen mit dem Wechsel ins Innenministerium geklärt. Nun schickt Seehofer den bisherigen Verfassungsschutz-Chef in den einstweiligen Ruhestand. Chronologie einer Affäre.

Von Clara Lipkowski

2012 wird Hans-Georg Maaßen Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz. Der Jurist wird an die Spitze der Behörde berufen, um aufzuräumen. Damals steht sie wegen der NSU-Terrorserie massiv in der Kritik. Sechs Jahre später ist es der 55-jährige Chef des Inlandsnachrichtendienstes selbst, der heftig kritisiert wird. Eigentlich war es nach seinen umstrittenen Äußerungen zu Chemnitz im Sommer 2018 schon ruhig um ihn geworden. Längst war entschieden, dass er als Abteilungsleiter ins Bundesinnenministerium wechselt. Dann hielt er eine umstrittene Abschiedsrede, in der er sich als Opfer stilisiert. Und Horst Seehofer schickt ihn in den einstweiligen Ruhestand. Eine Chronologie der Affäre:

Sommer 2018: Maaßen zweifelt Video von Ausschreitungen in Chemnitz an

In der Nacht zum 26. August kommt es in Chemnitz am Rande des Stadtfests zu einer Messerstecherei. Der 35-jährige Deutsch-Kubaner Daniel H. stirbt später im Krankenhaus an den Folgen der Messerstiche, die ihm mutmaßlich ein Asylsuchender zugefügt hat. Darauf mobilisieren für den gleichen Nachmittag rechte Gruppen in sozialen Netzwerken Proteste gegen "Ausländerkriminalität". Es finden zwei Demonstrationen statt, eine organisiert von der AfD, die andere von der rechtsradikalen Hooligan-Gruppe Kaotic Chemnitz. Es kommt zu Ausschreitungen. Menschen werden rassistisch beleidigt und über kurze Strecken verfolgt, Polizeibeamte und Journalisten angegriffen. Videos darüber kursieren im Netz. Bundeskanzlerin Angela Merkel verurteilt am 27. August die rassistischen Ausschreitungen; ihr Pressesprecher Steffen Seibert zitiert sie mit dem juristisch nicht klar definierten Wort "Hetzjagden".

Am Donnerstagabend, 6. September, veröffentlicht die Bild ein Interview mit Hans-Georg Maaßen. Darin widerspricht der Präsident des Bundesverfassungsschutzes der Kanzlerin deutlich. Über ein Video, das zeigt, wie ein Migrant kurz verfolgt wird, sagt er, dass niemand dessen Authentizität bestätigen könne. Es könne sich stattdessen um eine gezielte Falschinformation handeln, um möglicherweise die Öffentlichkeit von der Tötung in Chemnitz abzulenken. Dem Verfassungsschutz lägen "keine belastbaren Informationen darüber vor", dass Hetzjagden stattgefunden hätten, sagt Maaßen.

September 2018: Kritik wird laut

Maaßens Äußerungen lösen sofort heftige Kritik aus, Maaßen müsse jetzt schnellstmöglich Belege vorlegen, heißt es aus mehreren Parteien. Vertreter von SPD, Grünen und Linker fordern seinen Rücktritt. Die stellvertretende SPD-Vorsitzende Malu Dreyer sagt: "Herr Maaßen stellt die Glaubwürdigkeit von Politik, Medien und den vielen Augenzeugen infrage." Er schaffe Verunsicherung und zerstöre das Vertrauen in den Staat. "Ich glaube nicht, dass er noch der richtige Mann an dieser Stelle ist." In der CDU ist die Kritik zurückhaltender, die CSU - auch Horst Seehofer - und die AfD stellen sich hinter Maaßen. Auch in den sozialen Netzwerken ist die Aufregung groß. Zahlreiche Teilnehmer der Gegendemonstration widersprechen Maaßens Zweifeln auf Twitter und Facebook.

Sonntag, 9. September: Beweise fehlen, Maaßen bekräftigt Aussagen

Statt zurückzurudern bekräftigt Maaßen wenige Tage später noch einmal seine Zweifel an dem Video. Die sächsische Polizei, die Bundespolizei und der Verfassungsschutz hätten allesamt keine Hinweise auf Hetzjagden, heißt es in der Bild. Innenminister Horst Seehofer steht weiterhin hinter ihm, fordert aber auch, dass Maaßen erklären müsse, wie er zu diesen Schlüssen kommt. "Ich erwarte eine Begründung, auf die er seine These stützt", sagt Seehofer, die Frist setzt er für Montag, 10. September. Seehofer bestätigt, dass er und sein Ministerium über die Ansichten und Zweifel Maaßens informiert waren und auch darüber, dass der Verfassungsschutz-Chef damit an die Öffentlichkeit gehen wollte, allerdings seien die genauen Formulierungen ihm überlassen gewesen, betont Seehofer. Maaßen genieße sein uneingeschränktes Vertrauen.

Montag, 10. September: Maaßen beschwichtigt

In einem Schreiben an das Bundesinnenministerium erklärt Maaßen, er sei falsch verstanden worden. Es seien Zweifel angebracht, ob das Video "authentisch" eine Menschenjagd zeige. Dies habe er mit seiner Kritik gemeint. Er kritisiert nun "nur noch" die frühzeitige Veröffentlichung der Filmaufnahmen als unseriös, weil angeblich niemand die Quelle und die Echtheit der Aufnahme zu dem Zeitpunkt habe einschätzen können. Es kommt nun auch heraus, dass der Verfassungsschutz die Echtheit des Videos zwar angezweifelt hatte, diese aber gar nicht hatte prüfen lassen.

Mittwoch, 12. September: Vor dem Innenausschuss kritisiert Maaßen die ARD

Maaßen tritt am 12. September vor den Innenausschuss, um seine umstrittenen Äußerungen zu erläutern. Dort begründet er auch, dass er sich in der Bild als Reaktion auf eine Sendung der Tagesschau vom 27. August geäußert habe. Er wirft der ARD vor, die Zusammenhänge der möglichen Hetzjagd in der Sendung falsch dargestellt zu haben. Tagesschau-Chef Kai Gniffke weist die Kritik Maaßens in einem Schreiben zurück. Maaßen wiederholt daraufhin seine Medienkritik.

Dienstag, 18. September: Die große Koalition streitet über die Personalie

Nach Maaßens Äußerungen in der Bild streitet sich die große Koalition im September wochenlang über Maaßens Zukunft. Bei einem Treffen am Dienstag, 18. September, einigen sich die Parteichefs Andrea Nahles (SPD), Horst Seehofer (CSU) und Angela Merkel (CDU) darauf, Maaßen als Staatssekretär ins Innenministerium von Seehofer zu berufen. Maaßen würde so befördert werden und bekäme womöglich deutlich mehr Gehalt. Das löst breite Empörung aus - sowohl aus den Parteien als auch in den sozialen Medien werden Rufe laut, die Beförderung zu verhindern. Besonders Nahles wird dafür kritisiert, dass sie als SPD-Vorsitzende die Entscheidung mitträgt.

Sonntag, 23. September: Merkel und Nahles gestehen Fehler ein

Auf massiven Druck der Partei hin räumt Nahles ein, dass die Beförderung Maaßens ein Fehler sei. Sie fordert eine Nachjustierung des künftigen Postens. In einem erneuten Gespräch am Sonntag, 23. September, einigen sich die Spitzenpolitiker darauf, dass Maaßen nun als "Sonderberater für europäische und internationale Fragen" ins Bundesinnenministerium wechseln solle. Merkel gibt am 24. September zu, sie habe sich zu sehr davon leiten lassen, dass nach einer Versetzung Maaßens die Regierung weiter bestehen und arbeiten könne und nicht so sehr daran gedacht, "was die Menschen zu Recht bewegt. Wir waren zu sehr mit uns selbst beschäftigt", sagt sie. In dem nun für Maaßen geschaffenen Posten soll er im Rang eines Abteilungsleiters eine Stabsstelle verantworten und direkt Seehofer zuarbeiten. Sein Gehalt soll dasselbe wie bisher als Verfassungsschutzpräsident bleiben. Mit dieser Entscheidung können sich die Parteien arrangieren. Es wird ruhig um Hans-Georg Maaßen. Er äußert sich öffentlich nicht mehr zu den Vorkommnissen.

Donnerstag, 18. Oktober: Maaßen hält Rede vor Geheimdienstchefs

Bevor er als Chef des Verfasssungsschutzes abtritt, hält der 55-Jährige in Warschau eine Abschiedsrede vor dem sogenannten Berner Club, einer Runde europäischer Geheimdienstchefs. Darin stellt er sich dem mittlerweile bekannten Manuskript zufolge als Opfer einer Verschwörung der SPD dar. Teile der SPD bezeichnet er als "linksradikal". Sie hätten die Hetzjagden von Chemnitz erfunden und sich nach seinen umstrittenen Äußerungen dazu auf ihn fokussiert, um dadurch den Bruch der Koalition herbeizuführen.

Das Manuskript der Rede kursiert bald darauf im Bundesamt für Verfassungsschutz, wo Maaßen es offenbar im Intranet veröffentlichen ließ.

Sonntag, 4. November: Maaßen soll nun doch in den Ruhestand gehen

Am 4. November wird aus Koalitionskreisen in Berlin bekannt, dass Maaßen - sollte er sich in Warschau tatsächlich so geäußert haben - nun doch nicht ins Innenministerium wechseln, sondern direkt in den einstweiligen Ruhestand versetzt werden soll. Das Innenministerium prüfe noch, ob Maaßen tatsächlich gesagt hat, was im Redemanuskript stand.

Montag 5. November: Seehofer schickt Maaßen in den einstweiligen Ruhestand

Mit Bekanntwerden der Abschiedsrede wächst der Druck auf Innenminister Seehofer, der sich bislang immer schützend vor seinen Beamten gestellt hatte. Oppositionspolitiker wie Mitglieder der Regierungsparteien fordern Seehofer auf, Maaßen sofort in den Ruhestand zu schicken und ihn nicht wie geplant als Berater in sein Ministerium zu holen. Um 15 Uhr erklärt Seehofer vor der Presse in Berlin, dass er Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier gebeten habe, Maaßen "mit sofortiger Wirkung" in den einstweiligen Ruhestand zu versetzen. Seehofer sagt auch, er sei "ein Stück weit menschlich enttäuscht" von den jüngsten Äußerungen Maaßens, dieser habe eine "Grenze überschritten".

Ist die Nachfolge geklärt?

Seehofer zufolge wird der bisherige Verfassungsschutz-Vize Thomas Haldenwang Maaßens Nachfolge antreten - aber vorerst nur vorübergehend, solange noch ein Nachfolger für die Spitzenposition gesucht wird.

Maaßen war schon länger umstritten

Schon vor den Ausschreitungen in Chemnitz geriet Hans-Georg Maaßen in die Kritik.

  • 2002 befasst er sich als Referatsleiter für Ausländerrecht im Bundesinnenministerium mit dem Fall Murat Kurnaz. Dieser reist aus Deutschland nach Pakistan, wird aber dort von den USA nach Afghanistan und dann nach Guantánamo verschleppt und gefoltert. Als die USA Kurnaz nach Deutschland abschieben wollen, lehnt die deutsche Seite ab - auch wegen Maaßen, weil Kurnaz' Aufenthaltsgenehmigung "kraft Gesetz erloschen" sei. Der Grünen-Politiker Hans-Christian Ströbele macht Maaßen deswegen "mindestens mitverantwortlich" dafür, dass Kurnaz weitere drei Jahre in Folterhaft sitzt.
  • Im Sommer 2015 stößt Maaßen ein Ermittlungsverfahren gegen Blogger von Netzpolitik.org an, wegen angeblichen Landesverrats. Viele Beobachter halten das für einen Angriff auf die Pressefreiheit.
  • Deutlich kritisiert Maaßen Kanzlerin Merkels Vorgehen während des starken Zuzugs von Flüchtlingen nach Deutschland seit Ende 2015. Daraufhin sollen ihn Mitarbeiter aus dem Kanzleramt zurückgepfiffen haben. Von Seehofer erhält er Rückendeckung.
  • Kritisiert wird Maaßen auch, als bekannt wird, dass er sich mit der AfD-Politikerin Frauke Petry getroffen und sie davor gewarnt haben soll, dass ihre Partei vom Verfassungsschutz beobachtet werden könnte. Er kontert, dass er Gespräche mit allen Parteien führe.
  • Noch im Herbst 2018 muss Maaßen sich gegen den Vorwurf wehren, seine Behörde habe einen V-Mann im Umfeld des Attentäters vom Berliner Breitscheidplatz, Anis Amri, verheimlicht.

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