Süddeutsche Zeitung

Medizin:Frauen in der Herzchirurgie - noch immer selten

Lesezeit: 4 min

Bis heute ist der Beruf eine Männerdomäne. Inzwischen hat das Fach ein ernsthaftes Nachwuchsproblem - auch weil der Job so schlecht mit einer Familie zu vereinbaren ist.

Von Inga Rahmsdorf

Oberärztin Julie Cleuziou muss gleich in den OP-Saal, vorher holt sie sich noch schnell einen Kaffee. Keti Vitanova hat eigentlich Feierabend, die Fachärztin beendet gerade eine 24-Stunden-Schicht. Und Lena Eschenbach kommt etwas später zu dem Gespräch, die Assistenzärztin war gerade noch im Operationssaal.

Es ist acht Uhr morgens, ein ganz normaler Arbeitstag für die drei Herzchirurginnen im Deutschen Herzzentrum in München (DHM), einer Fachklinik für Herz- und Kreislauferkrankungen in Neuhausen - doch so normal war diese Situation lange Zeit nicht.

Erst seit knapp 25 Jahren arbeiten Frauen in Deutschland als Herzchirurginnen. Lange Zeit galt die gesamte Chirurgie als Männerdomäne. Das hat sich in den vergangenen Jahren zwar langsam geändert, trotzdem sind laut der Bundesärztekammer von den deutschlandweit knapp 38 000 berufstätigen Chirurgen nur etwa 8000 Frauen - obwohl mittlerweile mehr als 60 Prozent der Medizinstudenten weiblich sind.

Doch gerade im letzten Jahr des Studiums, dem praktischen Jahr, entscheiden sich viele Studierende gegen die Chirurgie. Dem Fach drohe der Nachwuchs auszugehen, warnen die Berufsverbände. Ein Grund dafür sei die mit sechs bis acht Jahren vergleichbar lang dauernde Ausbildung zum chirurgischen Facharzt, sagt die Assistenzärztin Eschenbach. Doch es gibt auch noch andere Gründe.

Die Herzchirurgie sei ein wunderschöner Beruf, den sie mit "Leidenschaft und Herzblut betreiben", darin sind sich die drei Medizinerinnen einig. Doch sie sind auch überzeugt davon, dass sich in Deutschland die Strukturen in den Kliniken dringend ändern müssen, um das Fach auch für die Zukunft attraktiv zu gestalten. "Es werden nun einmal mehr Frauen in der Medizin ausgebildet und man muss ihnen andere Arbeitszeitmodelle anbieten", fordert Oberärztin Cleuziou. "Und den Männern übrigens auch. Ich denke, dass sich in Zukunft auch mehr Männer um ihre Familien kümmern wollen."

Die leitende Oberärztin arbeitet bereits seit 15 Jahren als Herzchirurgin. Nachdem sie ihre Facharztausbildung abgeschlossen hatte, bekam sie ein Kind. Familie und Karriere in der Herzchirurgie zu vereinbaren, sei möglich, sagt sie. Es sei eine Frage der Organisation, der Bereitschaft der Vorgesetzten und der guten Zusammenarbeit im Team. Klar, auch bei ihr das sei nicht immer einfach gewesen.

"Ich war die einzige Fachärztin, die schwanger wurde, und bekam erst einmal zu hören: Oh Gott, was machen wir denn jetzt? Für einige Kollegen war klar, dass meine Karriere damit vorbei ist", erinnert sich Cleuziou. Als sie vorschlug, nach der Geburt zunächst mit etwas reduzierter Stundenzahl zurückzukommen, war die erste Reaktion: Teilzeit arbeiten in der Chirurgie? Undenkbar!

Auch wenn mittlerweile deutlich mehr Frauen als Männer ein Medizinstudium abschließen, sind sie in Führungspositionen an Kliniken weiterhin in der Minderheit. Bundesweit sind nur 13 Prozent der Spitzenpositionen in der Universitätsmedizin mit Frauen besetzt. In der Chirurgie sind es gerade einmal fünf Prozent. Nicht einmal jeder dritte Oberarzt in einer deutschen Universitätsklinik ist eine Frau, das ergab eine aktuelle Studie des Deutschen Ärztinnenbundes (DÄB). Innerhalb der vergangenen drei Jahre sei der Frauenanteil lediglich um drei Prozent gestiegen.

"Bei unverändertem Tempo wird eine Parität zwischen Frauen und Männern erst in etwa 32 Jahren erreicht sein", rechnet Gabriele Kaczmarczyk vor, die Vize-Präsidentin des DÄB und Leiterin der Studie. "Das bedeutet unter anderem, dass Ausbildung, Therapiekonzepte und die medizinische Meinungsbildung voraussichtlich bis zum Jahr 2051 durch Männer geprägt werden." Die Ursachen für den geringen Frauenanteil seien unklar. Schließlich sei qualifizierter Nachwuchs durchaus vorhanden.

"Jeder hat eine andere Vorstellung davon, wie er oder sie sein Leben gestalten möchte", sagt Cleuziou. "Man muss in den Kliniken viel mehr miteinander reden, wie man den Arbeitsalltag organisieren kann, damit die Situation sowohl für Arbeitgeber als auch für Arbeitnehmer zufriedenstellend ist."

Natürlich könne man nicht während einer Operation alles fallen lassen und nach Hause gehen, nur weil man in Teilzeit arbeitet. "Wir haben eine Verantwortung gegenüber dem Patienten", betont die Oberärztin. "Aber es gibt ja auch andere Arbeitszeitmodelle." Teilzeit könnte auch heißen, weniger Tage oder wochenweise zu arbeiten.

"Man muss nur Ideen entwickeln und es anders organisieren. Mein Vorgesetzter hat mich unterstützt und es hat funktioniert." Als ihr Sohn noch klein war, hat Cleuziou sich mit Kollegen darauf geeinigt, dass sie keine Nachtdienste unter der Woche übernimmt, dafür zweimal im Monat Wochenenddienste. Das sei natürlich nur möglich, wenn man als Team zusammenhalte und sich gegenseitig unterstütze.

Wer nicht mindestens 60 Stunden in der Woche arbeitet, der kann kein guter Chirurg sein: Diese Vorstellung ist immer noch weit verbreitet und vielerorts wird von jungen Ärzten ein bedingungsloser Einsatz gefordert. "Das Fach hat immer noch einen Zauber um sich, den frühere Chirurgen ihm verliehen haben", sagt Eschenbach. "Das waren Pioniere ihres Fachs, die bahnbrechende Leistungen erbracht haben, auch mit 75 Jahren noch operiert haben und immer in der Klinik waren."

Aber heute seien viele Verfahren standardisiert. Und man könne ein sehr guter Chirurg werden, ohne dafür Tag und Nacht in der Klinik sein zu müssen, darin sind sich die drei Ärztinnen einig. Unabhängig vom Geschlecht sei das auch eine Generationenfrage, meint Cleuziou. "Auch die jungen Männer wollen heute, wenn sie die Klinik verlassen, nichts mehr mit der Klinik zu tun haben."

Die ältere Generation schlafe dagegen mit ihrem Handy neben dem Bett. "Das Gefühl der Unersetzbarkeit, das besteht tatsächlich bei einigen Chirurgen. Aber man muss doch einsehen, dass jeder ersetzbar ist", sagt sie.

Die drei Herzchirurginnen streiten nicht ab, dass ihr Beruf sehr intensiv ist, einen hohen persönlichen Einsatz erfordert und nicht immer Flexibilität zulässt. Freitags Homeoffice ist keine Option. Und auch der Feierabend ist nicht immer planbar, wenn ein Notfall eintrifft oder eine Operation länger dauert als vorgesehen.

Eine bundesweite Umfrage unter etwa 13 000 Medizinstudenten ergab, dass die Vereinbarkeit von Familie und Beruf für angehende Ärztinnen und Ärzte an erster Stelle steht, gefolgt von geregelten Arbeitszeiten. Die Studie wurde im Auftrag der Kassenärztlichen Bundesvereinigung und der Universität Trier durchgeführt.

Ein weiteres Ergebnis: Während die Allgemeinmedizin bei Nachwuchskräften wieder etwas attraktiver geworden ist, hat das Interesse für die Chirurgie abgenommen, sowohl bei Frauen als auch bei Männern.

Um verschiedene Arbeitszeitmodelle realisieren zu können und insgesamt den Zeitdruck auf Klinikärzte zu verringern, sollte viel mehr in Digitalisierung und Automatisierung investiert werden, fordert die Fachärztin Vitanova. "In der Medizin stehen wir damit generell sehr weit zurück. In anderen Bereichen werden Roboter eingesetzt und wir schreiben noch mit der Hand, arbeiten mit Papier und Patientenakten", kritisiert sie.

Könnten sie alles in einer elektronischen Patientenakte eingeben, würde das für alle Mitarbeiter viel Zeit sparen. Der bürokratische Aufwand habe in den vergangenen zehn Jahren extrem zugenommen, sagt Cleuziou. "Dabei gibt es Berufsgruppen, die medizinischen Dokumentare, die sind extra dafür ausgebildet. Dann hätten wir Ärzte mehr Zeit für die Patienten."

Cleuziou hat den Satz gerade beendet, da klingelt das Telefon in ihrer Kitteltasche. Die Ärztin steht auf und verabschiedet sich. Die nächste OP beginnt.

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Quelle:
SZ vom 13.06.2019
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