Süddeutsche Zeitung

Weltfrauentag:"Gleichberechtigung jetzt!"

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Gewerkschaften, SPD und Grüne in Freising machen mit mehreren Aktionen auf bestehende Benachteiligungen von Frauen im Berufs- und Privatleben aufmerksam.

Von Thilo Schröder, Freising

Um 17.05 Uhr an diesem Dienstag fällt die Mauer auf dem Marienplatz, fallen die Vorurteile gegenüber und Nachteile für Frauen auf dem Arbeitsmarkt. Zumindest die symbolischen, die Vertreterinnen des Deutschen Gewerkschaftsbunds (DGB) in Freising und des Verdi-Ortsvereins Flughafenregion auf beklebten Umzugskartons notiert haben. Auf der Vorderseite, für Vorbeigehende gut sichtbar, stehen politische Forderungen: "Tarifverträge für alle", "Frauenberufe aufwerten", "Parität umsetzen, nicht nur darüber reden". Auf einem Karton prangt eine rote Nelke, das Symbol des Weltfrauentags. Dazwischen blau-gelb-gestrichene Kartons, mit weißen Friedenstauben versehen, als Zeichen der Solidarität mit der Ukraine.

Ein "kleiner Anfang" sei die Aktion, sagt die Organisatorin und Vorsitzende des Verdi-Ortsvereins Monika Ludwig. Der Weltfrauentag am 8. März solle auch in Freising wieder Beachtung finden. Die Forderungen seien zwar "uralt" und es ändere sich auch etwas. Aber eben nicht genug. Frauen verdienten in Deutschland im Schnitt 18 Prozent weniger als Männer, in Bayern sogar 22 Prozent. Ludwig ist selbst Rentnerin, hat den größten Teil ihres Berufslebens am Flughafen gearbeitet. Dort fehlten seit der Pandemie viele Arbeitskräfte, die wegen der Umsatzeinbrüche gekündigt hätten. Wie es nach einer Erholung des Flugverkehrs weitergehe, sei unklar, sagt sie.

Dem Mindestlohn sollen weitere Maßnahmen folgen, ungeachtet erhöhter Militärausgaben

Bundestagsabgeordneter Andreas Mehltretter (SPD) sieht vor Ort den Mindestlohn, der "in erster Linie" Frauen helfe, als wichtiges Instrument auf dem Weg zur Gleichstellung. Von 1. Oktober an wird dieser gemäß Kabinettsbeschluss auf zwölf Euro steigen. Auch die Arbeitsbedingungen müssten besser werden, weiblich geprägte Berufe mehr Respekt erfahren. Der 30-Jährige geht davon aus, dass die Ampel-Koalition an wichtigen sozialpolitischen Projekten wie einer Kindergrundsicherung festhalten werde, ungeachtet der kürzlich beschlossenen Verteidigungsausgaben in Milliardenhöhe. "Wir von der SPD werden mit Argusaugen darüber wachen, dass das zusätzliches Geld ist."

Früher am Nachmittag steht Rosa Sucher am Marienplatz, beziehungsweise hält Hildegard Koblitz aus Neufahrn ein Foto der Sängerin (1849-1927) vor der Brust. So bekommt diese ein Sprachrohr, wird zum lebenden Denkmal. "Mein Traum war es immer zu singen. Ich war im 19. Jahrhundert die Wagner-Sängerin, ein leuchtender Stern am Musikhimmel. Mit 18 kam ich nach Freising, dort wurde ich entdeckt für München, später war ich in Königsberg, Hamburg und Berlin, auf einer Tournee in Amerika. 1908 wurde ich krank, als Gesangslehrerin verdiente ich dann nur noch wenig. 1927 bin ich verarmt gestorben."

Auch Koblitz hat heute schon gesungen, zusammen mit Passantinnen und Passanten in der Freisinger Innenstadt: die Europa-Hymne, angesichts des Krieges in der Ukraine, wie sie sagt. Neben ihr stehen weitere Frauen als lebende Denkmäler, unter anderem die frühere Gleichstellungsbeauftragte des Landkreises, Gisela Landesberger. Sie ist Mitherausgeberin des Buches "Frauen aus dem Landkreis Freising: Clarissima 2", aus dem die hier personifizierten Biografien stammen.

"Wir müssen jeden Tag über Frauen sprechen", sagt Johannes Becher

Die Aktion umrahmt eine frauenpolitische Sprechstunde von Grünen-Landtagsabgeordnetem Johannes Becher. Die Porträtierten seien Identifikationsfiguren - "Frauen aus dem richtigen Leben, die stehen stellvertretend für viele", betont der 33-Jährige. Vorkämpferinnen wie die Braumeisterin Elisabeth Hörhammer Giammattei (1920-2001) oder die "Mutter der Behinderten" Juliane Maier (1917-2003). "Für diese Frauen steht nirgends ein Denkmal", sagt Becher.

Genausowenig wie für eine Erzieherin, mit der er heute gesprochen habe, aus einem Beruf also mit "strukturell gewachsenen" schlechten Arbeitsbedingungen. Auch aus der Ukraine kommende Frauen würden hierzulande auf einen Neuanfang hoffen. "Wir dürfen über Frauen aber nicht nur am Weltfrauentag sprechen, sondern müssen das jeden Tag tun", sagt Becher. Es brauche "echte Gleichstellung" und "auch Männer, die sich für echte Gleichstellung einsetzen".

Rückschritte in der Gleichberechtigung während der Pandemie

Ebenfalls am 8. März hat die Freisinger SPD Nelken in der Innenstadt verteilt. "Die Nelke ist ein Symbol, mit dem wir einerseits den Frauen danken wollen für ihre tragende und zu wenig wahrgenommene Rolle für unsere Gesellschaft. Andererseits wollen wir mit der Aktion vor allem darauf aufmerksam machen, dass noch viel zur Gleichstellung der Geschlechter getan werden müsste", erklärt die stellvertretende Vorsitzende Eva Schäffler laut einer Pressemitteilung. Frauen erledigten noch immer den Großteil der Care Arbeit wie Haushalt, Pflege und Kinderbetreuung, sagt Vorsitzende Teresa Degelmann. Gerade im Zuge der Pandemie habe es hier große Rückschritte gegeben Man müsse auch auf die Situation von Frauen aufmerksam machen, die Gewalt erfahren.

Als die Gewerkschaftsfrauen am späten Nachmittag am Marienplatz ihre "Mauer der Vorurteile" einreißen, bringen sie die Ausgangslage noch einmal auf den Punkt. "Schluss mit dem ganzen Mist!", rufen sie. "Gleichberechtigung jetzt!".

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