Süddeutsche Zeitung

Beitrittsverhandlungen:Jetzt aber los

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Eine seriöse EU-Perspektive für den Westbalkan gehört zu den wirksamsten Gegengiften, um Misstrauen und alte Nationalismen zu bekämpfen.

Kommentar von Tobias Zick

Der westliche Balkan ist in Berlin jetzt wieder Chefinnen-Sache. Kurz bevor Angela Merkel an diesem Montag sechs Staats- und Regierungschefs der Region zum virtuellen Gipfel empfing, hat sich die Bundeskanzlerin öffentlich zu dem Ziel bekannt, dass die Zukunft dieser Länder "im vereinten Europa" liegen solle. Natürlich nicht über Nacht, sondern "über kurz oder lang", und unter Bedingungen: dass die dortigen Regierungen "Misstrauen und alte Nationalismen" überwinden.

Vor ziemlich genau drei Jahrzehnten begann der blutige Zerfall des alten Jugoslawien, und ja, Misstrauen und alte Nationalismen: Das sind Plagen, die sich in jüngster Zeit wieder mit neuem Elan durch die Region fressen. Merkel hat recht, wenn sie deren Überwindung als Bedingung für weitere Annäherungsschritte an die Europäische Union nennt. Umgekehrt gilt aber auch: Eine seriöse EU-Perspektive gehört zu den wirksamsten Gegengiften, um Misstrauen und alte Nationalismen zu bekämpfen. Merkel hat deshalb insbesondere damit recht, dass sie das Thema mit neuer Entschlossenheit vorantreibt und sich zu einem klaren Ziel bekennt.

Viel zu lange haben die EU und ihre Mitgliedsstaaten ihr Interesse für die Region geradezu demonstrativ schleifen lassen. Ein Tiefpunkt war im Herbst 2019 erreicht, als Frankreichs Präsident Emmanuel Macron die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit Albanien und Nordmazedonien blockierte - auch deshalb, weil er sich von Rechtspopulisten im eigenen Land unter Druck gesetzt sah.

Von Aufbruchsstimmung ist auf beiden Seiten wenig zu spüren

Die plötzliche Abfuhr aus Paris führte dazu, dass der nordmazedonische Premier, der gegen beträchtliche Widerstände im eigenen Land beträchtliche Reformen durchgesetzt hatte, zurücktrat (die darauf folgende Neuwahl gewann er wiederum, was ihn in seinem proeuropäischen Kurs bestätigte). Mindestens ebenso schädlich war aber die Botschaft, die durch die ganze Region hallte: Brüssel will uns gar nicht, egal wie sehr wir uns anstrengen. Ein halbes Jahr später stimmten dann doch die 27 Mitgliedsstaaten gemeinsam für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit den beiden Balkanländern, das war, wenn man so will, ein versöhnliches Signal. Doch von Aufbruchsstimmung ist auf beiden Seiten nach wie vor wenig zu spüren.

In der Pandemie ist umso deutlicher zutage getreten, wie attraktiv die Region für andere geopolitische Großakteure ist, um dort Flagge zu zeigen. Serbien etwa ließ die EU beim Impftempo hinter sich, mit Vakzinen aus China und Russland - und Präsident Aleksandar Vučić stellte seine Freude darüber derart demonstrativ zur Schau, dass in Brüssel die Botschaft ankommen musste: Seht her, wir brauchen euch Europäer gar nicht! Bei anderen Gelegenheiten tönt es aus Belgrad dann wiederum, dass man unbedingt weiter auf einen EU-Beitritt hinarbeiten wolle.

Dass in den Ländern des westlichen Balkans noch viel getan werden muss, ehe eine Aufnahme infrage kommt, steht außer Frage. Insbesondere bei den Rechtsstaatsreformen sollte sich die EU auch auf keinerlei faule Kompromisse einlassen: Eine wirklich unabhängige Justiz, die als Schwergewicht gegen autoritäre Bestrebungen in Regierungen und Parlamenten wirken kann, ist die innere Immunabwehr, die jede Demokratie nach europäischen Standards braucht. Was passieren kann, wenn es daran hapert, lässt sich in mehreren der jüngeren Mitgliedsstaaten in Mittel- und Südosteuropa besichtigen.

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