Süddeutsche Zeitung

Serie "1972 - das Jahr, das bleibt" - Klaus Lemkes Film "Rocker":"Wir hatten irre Angst vor denen"

Lesezeit: 6 min

Wie der Regisseur Klaus Lemke zwischen Zuhältern und Lederjacken vor 50 Jahren den unsterblichen Film "Rocker" drehte.

Von David Steinitz

"Man kann sich das heute natürlich nicht mehr vorstellen", sagt Klaus Lemke, während er ein paar der überzüchteten Besserverdiener mit ihrem Plantagenbesitzergang ins Visier nimmt, die mittlerweile das Univiertel übernommen haben. "Aber München war mal das Paradies."

An einem sonnigen Frühsommertag sitzt Lemke auf der Terrasse eines Cafés in der Türkenstraße und macht, was hier sonst keiner mehr macht: einen ganz normalen schwarzen Kaffee bestellen. Die Bedienung, an Sojamilchschaumwünsche gewöhnt, schaut ganz irritiert. Vielleicht auch, weil er die Schirmmütze wie immer so tief ins Gesicht gezogen hat, dass unten nur noch die doch sehr große Lemke-Nase rausschaut.

Der Grund des Treffens: Vor 50 Jahren kam "Rocker" heraus. Mittlerweile ist der Film für viele persönliches Weltkulturerbe und läuft in manchen Kinos in der Dauerrotation wie die "Rocky Horror Picture Show". Ursprünglich wurde er fürs ZDF gedreht und das erste Mal 1972 gezeigt. Lemke erzählt in "Rocker" die Geschichte des 15-jährigen Mark, dessen Vorbild sein Herumtreiber-Bruder Uli ist. Als der Bruder im Streit von einem Zuhälter erschlagen wird, findet Mark in der Hamburger Rockergang "Bloody Devils" eine Art Wahlverwandtschaft und in deren Biker-Boss Gerd eine neue Vaterfigur.

"Mercedes fährt jeder Kuhbauer hier in Deutschland", lautet ein zentraler Satz des Films

Natürlich könnte jetzt irgendein Schlaumeier fragen, ob es aus dem Umbruchsjahr 1972 nicht wichtigere Filme gibt, deren Entstehungsgeschichte man zum Jubiläum erzählen könnte. Was ist mit "Der Pate"?, hört man erbost die Cineasten rufen. Aber das wäre dann eben sehr langweilig, weil Klaus Lemke nicht vorkäme. Denn während viele Filmemacher jener Zeit, allen voran "Der Pate"-Regisseur Francis Ford Coppola, sich irgendwann mehr für ihre Weingüter als für Filme interessieren, kann man sich Lemke eher schlecht bei der Verkostung seines eigenen Zinfandels vorstellen.

Nicht, dass er einen guten Rotwein nicht zu schätzen wüsste. Unvergessen die Verabredung im Sommer 2014, als er gerade in Berlin drehte und den Reporter zu seinem Lieblingsitaliener in Mitte bestellte. Angeblich, weil da immer besonders viele schöne Frauen anzutreffen seien. Letztlich waren dann aber nur er, der Reporter und die Berliner Kellnerin da, die ständig wissen wollte, "ob bei den Signori allet tutto bene is". In diesem Moment half natürlich ein schöner Chianti, in den Lemke seufzend seine große Nase steckte.

Ansonsten aber ist er auch mit 81 Jahren nicht der Verweingüterisierung erlegen. Sondern immer noch der wilde Hund, der damals mit Anfang dreißig "Rocker" drehte. Näher als er kam kein deutscher Regisseur dem "Easy Rider"-Gefühl von Freiheit und Wahnsinn. Wenn man gemein sein will, was man als Filmkritiker ja manchmal sogar muss, könnte man die deutsche Wildfilmgeschichte der Nachkriegszeit folgendermaßen zusammenfassen:

Nichts.

"Rocker" (1972).

Nichts.

Deshalb also ein Treffen mit Lemke. Zur Klärung der Frage, wie ein Hardcore-Wahlschwabinger dazu kam, auf St. Pauli zwischen Lederjacken und Zuhältern den Film seines Lebens zu drehen. Womit wir beim "Fotzen-Ole" wären. Der Name hätte eigentlich am Anfang dieser Geschichte stehen sollen, denn er gab den Anstoß zu "Rocker". Aber Lemke, um das Wohl des Reporters und seiner Lieblingszeitung besorgt, warnt streng: "Das kannst du nicht machen, Dicker. Da bestellen die Leute sofort ihr Abo ab, wenn du mit Fotzen-Ole anfängst. Den musst du später im Text einführen."

Also bringen wir die Dinge nun eben an dieser Stelle in ihre film- und kiezhistorisch richtige Reihenfolge. Weil München laut Lemke wie gesagt einmal das Paradies war, so Ende der Sechziger, Anfang der Siebziger, bevor die Idioten kamen, stellte es für ihn eine grobe Beleidigung dar, als ihm gesagt wurde, München sei gar nicht das Paradies. Sondern Hamburg. Und Schuld daran war Fotzen-Ole.

Dieser Mann, der bürgerlich schlicht Ole Jürgens hieß und ein prägendes Mitglied der Rockergruppe "Bloody Devils" war, hatte sich in ein Mädchen verliebt, das eine kleine Rolle im Musical "Hair" in Hamburg spielte. Also saß der Rocker, der eine romantische Ader hatte, auf die man allein durch seinen Spitznamen nicht gekommen wäre, in jeder Vorstellung. Und brachte Blumen mit. Gut, die waren geklaut. Aber es zählt ja die Geste.

Die Rocker hatten die Beletage besetzt. Die schlimmsten Toiletten, die er jemals gesehen habe, sagt Lemke

Lemke weiß das alles, weil er damals mit diesem Mädchen aus "Hair", Christine heißt sie, eine Fernbeziehung führte. Und das war natürlich ein Problem. Weniger, weil er auf Monogamie bestanden hätte ("Damals hatten alle mehrere Freundinnen oder Freunde!"). Sondern weil diese Christine, schwer beeindruckt vom um sie werbenden Rocker, bei Lemke in München anrief und sagte: Die richtig harten Jungs sind in Hamburg.

Das hätte Lemke noch als Einzelmeinung abtun können. Wäre nicht fast zur selben Zeit Iris Berben, seine andere damalige Freundin (hatten wir schon erwähnt, dass damals alle mehrere Freundinnen oder Freunde hatten?) nicht auch dieser Meinung gewesen. Iris Berben sagte also ebenfalls: Die richtig harten Jungs wohnen in Hamburg.

Also stieg Lemke in den Zug. In Hamburg traf er in einer besetzten Villa an der Alster seine Freundin Christine wieder. Beziehungsweise seine Exfreundin Christine, weil Fotzen-Ole als einer der wenigen Teilnehmer der frühen Siebzigerjahre eher nicht so an die Sache mit den mehreren Freundinnen und Freunden glaubte.

Das machte aber nichts, denn Lemke lernte in dieser Villa genug neues Personal kennen, um sich von diesem amourösen Verlust ablenken zu können. Laut Lemke residierten dort zeitweise prägende Teile der RAF sowie ein lokaler Drogenzar. Und natürlich die Rocker. Die Rocker hatten sich die Beletage geschnappt. Die Toiletten in der Beletage, sagt Lemke, seien die schlimmsten gewesen, die er jemals in seinem Leben zu Gesicht bekommen habe.

Jedenfalls war ihm sofort klar, dass er mit diesen Rockern einen Film drehen muss. Lemke hasst alles, was mit dem klassischen Filmbetrieb zu tun hat. Drehbücher. Castings. Location-Suche. Genehmigungen. Er dreht da, wo er gerade ist, mit den Leuten, die da auch gerade sind, und zwar so lange, bis die Polizei kommt. Und wenn gerade keiner da ist, oder dummerweise nur die Polizei, dann wird halt nicht gedreht. Und diese echte Rockergang war der ideale Gegenentwurf zum sonstigen Figurenpersonal des deutschen Films.

Glücklicherweise gab es just in jener Phase beim ZDF ein paar Redakteure, die gewillt waren, diese Kamikazeaktion zu finanzieren. Fast 400 000 Mark habe er für "Rocker" bekommen, sagt Lemke. Viel Geld damals. Um die Redakteursnerven zu beruhigen, schrieb er ihnen gnädigerweise ein Alibidrehbuch, das sie ihren Chefs zeigen konnten. Was da drinstand? "Ach, was weiß ich. Irgendwas mit Plattenbauten. Hauptsache nicht das, was nachher im Film vorkommt."

C'est la vie: Christine verließ den Rocker und heiratete einen Polo-Kumpel von Prinz Charles

Der Nachteil dieser Arbeitsweise ohne echte Schauspieler: "Wir hatten irre Angst vor den Rockern. Vor denen hätte jeder Angst gehabt. Die sind gekommen und gegangen, wann sie wollten. Wenn auf dem Weg ein Motorrad kaputtging, was ständig passierte, weil die alle aus jeweils 500 verschrotteten Motorrädern zusammengebaut waren, dann blieb die ganze Gang stehen und wartete, bis das Ding repariert war."

Der Vorteil dieser Arbeitsweise: Szenen, die mehr Leben besitzen als fast alles, was Drehbuchautoren sich in ihren Schreibstuben ausdenken können. Die Rocker spielten sich selbst, auch Fotzen-Ole bekam eine kleine Rolle, und Lemke baute seinen Film in ihre Welt hinein. Auch der Darsteller des 15-jährigen Mark, Hans-Jürgen Modschiedler, war ihm auf der Straße begegnet. Als Lemke ihn das erste Mal sah "mit seiner Prinz-Eisenherz-Frisur", fiel ihm "wie aus dem Nichts" die Story für "Rocker" ein.

Viele Sätze aus dem Film gehören in Hamburg und darüber hinaus längst zur Kulturgeschichte und werden von den Fans bei Vorführungen mitgesprochen. "Mach dich grade", zum Beispiel. Es sind Sätze, die einfach mal gesagt werden mussten wie "Mercedes fährt jeder Kuhbauer hier in Deutschland". Und Sätze, an die man jeden Montagvormittag in der Wochenkonferenz des Feuilletons denken muss: "Ich kauf mir 'n Ofen, und dann haun wir ab hier".

Obwohl die Bands, die Lemke in den Soundtrack packte, eher wenig mit deutschen Befindlichkeiten zu tun hatten, klingen die Songs der Rolling Stones und von Led Zeppelin so, als seien sie in diesem Kiez entstanden. In einer Szene drückt Marks Bruder kurz vor seinem Tod in einer Kneipe die 11-6 auf der Jukebox, und "It's All Over Now, Baby Blue" (in der Version von Them) hat weder davor noch danach jemals so perfekt in einen Film gepasst.

Am 19. Juni läuft "Rocker" im Rahmen der Reihe "Eine Stadt sieht einen Film" in 16 Hamburger Kinos. Lemke wird dabei sein und den Film vorstellen. Das schuldet er der Stadt, die ihm diesen Film schenkte, denn Lemke sagt, dass nicht der Regisseur den Film aussucht, sondern der Film den Regisseur. Auch wenn es "ungefähr ein Jahrzehnt" dauerte, bis die Hamburger akzeptierten, dass ausgerechnet ein Münchner den ultimativen Hamburg-Film gedreht hat.

Also steigt er jetzt wieder in den Zug zur Jubiläumsveranstaltung, fünf Jahrzehnte nach der Erstausstrahlung. Viel passiert seit damals. Iris Berben wurde ein Star. Christine, das Mädchen aus "Hair", verließ Fotzen-Ole und heiratete einen Polo-Kumpel von Prinz Charles. Fotzen-Ole starb in einem Bordell. Wie, weiß Lemke nicht mehr, nur dass es niemanden wunderte. Ein Teil der "Bloody Devils" ging nach Kalifornien und wurde nie wieder gesehen. Der Rest bekam Probleme mit Kokain (Konsum und Verkauf).

Ob er sich noch an den letzten Drehtag erinnert? "Natürlich, Dicker." Nach der letzten Klappe fuhren die Rocker einfach weg, ohne ein Wort. Aber einer warf ihm über die Schulter seine Lederjacke zu. Lemke weiß nicht einmal, wer genau, aber es war der ultimative Ritterschlag. Er trug die Jacke zwei Jahre lang jeden Tag - dann wurde sie ihm geklaut. It's All Over Now, Baby Blue.

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