Süddeutsche Zeitung

"Nahschuss" im Kino:Systemfehler

Lesezeit: 3 min

Lars Eidinger spielt im DDR-Drama "Nahschuss" einen Wissenschaftler, der als Spion für die Stasi arbeitet und selbst nicht sicher ist: Macht er das freiwillig oder wird er gezwungen?

Von Annett Scheffel

Ob es denn nun ein Müssen oder ein Wollen gewesen sei, wird Franz Walter gegen Ende im Gerichtssaal gefragt. Da ist er schon wegen versuchter Spionage und Fahnenflucht angeklagt. Müssen oder Wollen? Diese Frage durchzieht im Grunde den ganzen Film. Die Frage des freien Willens. Die Entscheidung für oder gegen Lebenswege, die sich vor einem auftun. Dabei nie zu wissen, ob man zur richtigen Zeit am richtigen Ort oder zur falschen Zeit am falschen Ort ist. Und überhaupt: Wie frei ist man in den Zwängen eines politischen Systems?

Der Staat, um den es im Historiendrama "Nahschuss" von Franziska Stünkel geht, ist die DDR. Die Zeit: die zweite Hälfte der Siebziger. Hier lebt der junge Wissenschaftler Franz Walter (Lars Eidinger). Gerade hat er an der Berliner Humboldt-Universität promoviert, da tut sich für ihn die Chance seines Lebens auf: Er soll bald eine Professur übernehmen. Zur neuen Stelle gibt es zudem eine neue, für DDR-Verhältnisse luxuriös ausgestattete Wohnung. "Es wird uns hier wahnsinnig gut gehen", sagt er zu seiner Verlobten Corina (Luise Heyer) und legt eine Platte von City auf, mit dem Grinsen eines Mannes, der sein Glück kaum fassen kann. Über der Szene liegt etwas Klaustrophobisches - die Enge, das Licht, die unheilvolle Stimmung. Man ahnt: Natürlich ist alles zu schön, um wahr zu sein.

Werner Teske wurde 1981 vom Scharfrichter durch einen "unerwarteten Nahschuss" getötet

Denn der Staat verlangt für das privilegierte Leben eine Gegenleistung. Franz soll sich erkenntlich zeigen und ein Jahr bei der Stasi arbeiten, genauer gesagt deren Auslandsgeheimdienst, der Hauptverwaltung Aufklärung. Franz willigt ohne großes Zögern ein. Er unterschreibt rasch und noch im Mantel seine Verpflichtungserklärung, inklusive Schweigepflicht.

Seine Motive lässt der Film bewusst im Unklaren. Vielleicht will Franz um jeden Preis Karriere machen. Vielleicht sind die Verlockungen zu groß. Vielleicht glaubt er auch noch an die DDR und die große Aufgabe, "den Frieden zu sichern". Vielleicht ist er einfach zu gutgläubig. Vielleicht von allem ein bisschen.

Jedenfalls steht er bald auf seinem ersten Westausflug mit seinem Führungsoffizier Dirk Hartmann (Devid Striesow) in einer Hamburger Bar und verfolgt fasziniert den Tanz der Partylichter. Sie sind auf einen in die BRD geflohenen Fußballspieler angesetzt, der mithilfe eines pedantisch geplanten Systems aus Informanten, Erpressung und Irreführung zur Rückkehr gezwungen werden soll.

Die Filmemacherin und Fotokünstlerin Franziska Stünkel hat ihr Drehbuch an einen echten Fall angelegt: die Lebens- und Todesgeschichte des Werner Teske. Der Wirtschaftswissenschaftler war 1981 der letzte Angeklagte, der in der DDR zum Tode verurteilt und hingerichtet wurde, durch einen sogenannten "unerwarteten Nahschuss", eine Exekution nach sowjetischem Vorbild, bei dem der Scharfrichter sich anschleicht und in den Hinterkopf schießt. Stünkel rückt mit der DDR-Todesstrafe ein Kapitel aus der jüngeren deutschen Geschichte in den Blickpunkt, das die SED-Führung schamhaft vertuschte (weil die Urteile selbst das schwammige DDR-Recht beugten) und erst 1987 offiziell abschaffte.

Zweifellos hätte die Filmemacherin, die beim Filmfest München den Förderpreis Neues Deutsches Kino für das beste Drehbuch gewonnen hat, aus diesem Stoff auch einen wendungsreichen deutsch-deutschen Spionage-Thriller machen können. Der Fall hätte das hergegeben. Aber Stünkel geht es in ihrem hervorragend ausgestatteten und in Braun-, Grau- und Sepia-Tönen düster glimmenden Film um das Psychogramm eines Mannes, der sich in einem erbarmungslosen System verstrickt - und in seiner eigenen Schuld.

Franz ist eloquent und ehrgeizig, aber kein gewissenloser Typ, sondern eher dünnhäutig. Seine Druckkammer ist sein Gewissen. Und wie die Stasi Menschenleben für den Systemerhalt gnadenlos durch den Fleischwolf dreht, zermürbt ihn zusehends. Er will raus, will fliehen, aber die Stellschrauben sind schon zu fest - und er ist ohnehin längst Mittäter, ein Rädchen im Getriebe.

Er ist Opfer und Täter, er muss mitmachen und er will mitmachen

Für Lars Eidinger ist dieser Franz Walter eine Paraderolle. Ein von dunklen Kräften heimgesuchter Mann, als der er schon in anderen Film- und Theaterrollen überzeugt hat. Den bald psychisch bröckelnden und von seiner Familie entfremdeten Wissenschaftler spielt er in all seiner Widersprüchlichkeit. Je verzweifelter Franz versucht, sich seinem falschen Leben zu entziehen, für das er sich ja selbst entschieden hat, desto näher rückt die Kamera ihm in langen Einstellungen auf den Leib, desto enger wird das Bild, bis es ihm am Ende im Gerichtssaal in einer erdrückenden Nahaufnahme sogar das Gesicht beschneidet.

Man könnte Franziska Stünkel (geboren 1973 in Göttingen) einen kleinen Vorwurf daraus machen, dass die DDR, die sie in ihrem Film zeigt, einmal mehr ausschließlich als dieser monströse, paranoide Unrechtsstaat in dunkler Farbpalette erscheint, der sie zweifelsohne war, aber eben nicht nur. Dafür gelingt Stünkel bei ihrer Hauptfigur eine spannende Differenzierung: Franz ist keine so schmerzlich-melancholische Figur wie der Stasi-Hauptmann in "Das Leben der Anderen". Aber er wirft Fragen auf. Weil er beides ist, Opfer und Täter. Sein Leben ein selbstgewähltes Gefängnis - und gleichzeitig ein aufgezwungenes. Am Ende ist er zu so einigen Schandtaten bereit und ringt dem Zuschauer trotzdem Mitgefühl ab. Franz kommt aus den Bahnen, in die er sein Leben gelenkt hat, nicht mehr heraus. Vielleicht hatte er aber auch nie eine Wahl. Wollen oder Müssen - dass sich das bis zum Ende kaum auseinanderhalten lässt, ist die große Stärke von "Nahschuss".

Deutschland 2021 - Regie und Buch: Franziska Stünkel. Kamera: Nikolai von Graevenitz. Schnitt: Andrea Mertens. Mit: Lars Eidinger, Luise Heyer, Devid Striesow, Paula Kalenberg. Alamode, 116 Minuten. Im Kino.

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