Süddeutsche Zeitung

Cytotec:Schwere Geburt

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Von Werner Bartens, Felix Hütten und Berit Uhlmann

Babys sind ziemlich unzuverlässig. Das fängt schon mit ihrer Geburt an, die wenigsten halten sich an den errechneten Termin. So bleiben Babys in den meisten Fällen nicht jene 280 Tage - also 40 Wochen - im Mutterleib, die eine Schwangerschaft laut Lehrbuch dauert. Aber was ist bei einer Geburt schon normal? Gerade mal vier Prozent aller Kinder kommen am errechneten Termin auf die Welt, gut 40 Prozent in den Tagen danach.

Ist der Termin schon länger überschritten, stehen werdende Eltern, Hebammen und Geburtshelfer vor dem Dilemma: Weiter abwarten - oder die Geburt einleiten? Bleibt das Baby zu lange im Bauch, drohen irgendwann Schäden, etwa durch Infektionen. Wann genau, das hängt von vielen Faktoren ab wie dem Alter der Mutter und dem Gesundheitszustand des Kindes. "Wir leiten Geburten ein, damit kein Kind und keine Mutter geschädigt wird oder stirbt", sagt Maria Delius, Leiterin der Geburtshilfe an der Innenstadt-Frauenklinik der Ludwig-Maximilians-Universität in München.

Um die Geburt einzuleiten, gibt es Medikamente in Form von Tabletten, Gels, Vaginalzäpfchen ("Inserts") und Infusionen. In den vergangenen Tagen hat die Berichterstattung um eines dieser Wehenmittel mit dem Handelsnamen Cytotec deutschlandweit für heftige Diskussionen gesorgt. Vorausgegangen war eine Berichterstattung von Süddeutscher Zeitung und Bayerische m Rundfunk. Darin wurde die Problematik der Geburtseinleitung in Deutschland anhand seltener Fälle von Müttern und deren seit Geburt behinderten Kindern geschildert. Die Schäden sollen in Zusammenhang mit einem Wehensturm stehen; ausgelöst durch das Medikament.

Für Empörung sorgte auch die Tatsache, dass Cytotec in Deutschland nicht für die Einleitung von Wehen zugelassen ist und als sogenanntes Off-Label-Medikament verabreicht wird. Ärzte dürfen im Rahmen ihrer Therapiefreiheit auch für diesen Zweck nicht zugelassene Medikamente verwenden, wenn sie die Patienten vorher aufgeklärt und diese zugestimmt haben. Off-Label-Mittel sind allerdings keine Seltenheit in der Medizin, sondern in Geburtshilfe und Kinderheilkunde tragende Säulen der Therapie. Der Gesetzgeber lässt dies bewusst zu, um lebensrettende Behandlungen zu ermöglichen.

Ursprünglich kam Cytotec als Magenschutzmittel auf den Markt. Der im Medikament enthaltene Wirkstoff Misoprostol ist ein Prostaglandin, das auch in der Gebärmutter wirkt, weshalb es zur Geburtseinleitung verwendet werden kann. 2006 nahm Hersteller Pfizer Cytotec vom deutschen Markt. Kritiker halten dem Konzern vor, das Medikament aufgrund geringer Gewinnerwartungen und dem schlechten Ruf als "Abtreibungsmittel" nicht mehr zu verkaufen. Zudem vertreibe die Pharmafirma andere Mittel zur Geburtshilfe, die lukrativer sind. Pfizer nimmt auf SZ-Anfrage keine Stellung, sondern verweist auf fehlende Zulassungsstudien.

Warum aber wird ein nicht zugelassenes Medikament zur Geburtseinleitung verwendet, wenn es zugelassene Mittel gibt? Offenbar überwiegen bei korrekter Dosis die Vorteile, denn etliche Studien zeigen, dass der im Medikament enthaltene Wirkstoff Misoprostol vor allem in Tablettenform seltener zu Kaiserschnitten führt im Vergleich zu anderen Mitteln wie Dinoproston oder Oxytocin. Dies zeigt eine Auswertung des renommierten Cochrane-Netzwerks von 75 relevanten Studien mit 14 000 Teilnehmerinnen. Cochrane-Analysen gelten als sehr zuverlässig, denn dafür werden nur die hochwertigsten Daten zusammengefasst.

Man habe im Verlauf von zehn Jahren bei mehreren Tausend Geburten keinen der in den Medien beschriebenen Fälle erlebt

Zu extrem seltenen, gravierenden Nebenwirkungen von Misoprostol könne die Auswertung aber wenig beitragen, schreiben die Autoren. "Das liegt daran, dass diese selbst unter den 14 000 Studienteilnehmerinnen zu selten waren, um valide Aussagen ableiten zu können." Hinzu kommt, dass die Alternative Oxytocin bei unreifem Muttermund nicht verwendet werden kann. "Und das ist nun mal mehrheitlich der Fall", sagt LMU-Ärztin Delius. Und nach Blasensprung sei die zugelassene vaginale Anwendung von Inserts häufig schwierig, "das schwimmt ja davon".

Dass ein Baby im Mutterleib stirbt, ist zwar selten, kann aber während der gesamten Schwangerschaft vorkommen. Ist das Kind "über Termin", steigt diese Wahrscheinlichkeit. Deshalb gilt es abzuwägen zwischen den Risiken durch weiteres Abwarten und einer Intervention.

Michael Abou-Dakn, Chefarzt am St.-Joseph-Krankenhaus in Berlin und Sprecher der Pränatal- und Geburtsmedizin der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG), sagt, er habe in den vergangenen zehn Jahren allerdings keine der in den Medien beschriebenen schweren Fälle beobachtet. Seine Klinik zählt mit mehr als 4000 Entbindungen im Jahr zu den größten Geburtshäusern Deutschlands. Ähnliches berichten Ärztinnen und Ärzte weiterer großer Geburtskliniken: "Ich habe nie die Ruptur einer Gebärmutter im Zusammenhang mit einleitenden Mitteln erlebt", sagt LMU-Ärztin Maria Delius. "Es ist insgesamt sehr, sehr selten." Auch in der Fachliteratur sind kaum Fälle beschrieben, bei dem eine Frau nachweislich nach einer regelkonformen Einleitung mit Cytotec gestorben ist.

Mediziner debattieren das Prozedere zur Geburtseinleitung intensiv

Die US-Arzneimittelbehörde FDA und die französische Gesundheitsbehörde ANSM haben vor gefährlichen Komplikationen bei Cytotec gewarnt. Auch das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) veröffentlicht regelmäßig Warnhinweise zu Nebenwirkungen zahlreicher Medikamente, auch zu Cytotec. Eine Warnung bedeutet allerdings nicht automatisch, dass ein Medikament nicht verwendet werden soll, da jeder Wirkstoff Nebenwirkungen hat oder Komplikationen auslösen kann, teils auch lebensbedrohliche. Eine Einordnung der Warnungen, etwa in definierte Risikoklassen, nehmen die Behörden nicht vor. Ob ein Medikament in der Anwendung also mehr Nutzen als Schaden bringt, müssen Studien ermitteln und Leitlinien der Fachgesellschaften aufzeigen.

In Deutschland wird über das Prozedere zur Geburtseinleitung fachintern intensiv debattiert. "Derzeit bieten wir nach sieben Tagen über Termin die Einleitung an, ab zehn Tagen empfehlen wir sie", sagt Frauenärztin Delius, "aber das kommt sehr auf die Vorgeschichte und den aktuellen Zustand der Schwangeren an." Als korrekte Dosierung zur Einleitung gelten 25 Mikrogramm Misoprostol, "die werden von Klinikapotheken zubereitet, Ärzte und Hebammen zerbröseln da nichts".

In den vergangenen Tagen schilderten zahlreiche Frauen im Internet, nicht ausreichend über Alternativen aufgeklärt worden zu sein oder eine zu hohe Dosis Misoprostol bekommen zu haben. Daraufhin hätten sie schmerzhafte Übererregungen der Gebärmutter bekommen, sogenannte Wehenstürme. "Leider gibt es eine Therapielücke", sagt Delius. "Alle weheneinleitenden Mittel sind nur in ausgewählten Situationen hilfreich und anwendbar. In jeder Lage gibt es ein Mittel, das besser ist." Michael Abou-Dakn sagt: "Tatsächlich gibt es Unsicherheiten in der Literatur hinsichtlich Dosierung, Anwendungshäufigkeit und Überwachung. Die Leitlinien dazu werden gerade überarbeitet."

Fachliteratur und Fallzahlen belegen, wie sicher das Medikament ist. "Orales Misoprostol wird nicht bevorzugt, ist aber eine gute Alternative", sagt Delius. Etwa ein Viertel aller Geburten werden in Deutschland eingeleitet, davon geschätzt die Hälfte mit oral gegebenem Misoprostol. Bei etwa 790 000 Geburten im Jahr entspräche dies knapp 100 000 Einleitungen. Dem stehen 74 Verdachtsfälle von Komplikationen gegenüber, die dem BfArM in den zehn Jahren von 2010 bis Oktober 2019 gemeldet wurden; pro Jahr fünf bis 14 Fälle - und es ist ein Verdacht, kein Beweis. Insgesamt werden Komplikationen von Ärzten wie Patienten selten gemeldet, weshalb diese Zahlen nur bedingt aussagekräftig sind.

Nach der umfangreichen Berichterstattung wurden dem BfArM seit Mitte Februar weitere 257 Verdachtsfälle zugetragen, die man derzeit prüfe, auch auf Dopplungen. Die Gesamtzahl neuer Verdachtsmeldungen sei daher noch nicht zu beziffern, sagte ein Sprecher. Damit die Meldung in die Datenbank aufgenommen wird, muss es allerdings keinen kausalen Zusammenhang zwischen dem Medikament und Komplikationen geben.

Viele Frauen fühlen sich entmündigt, gedrängt, und haben das Gefühl, in der Klinik die Kontrolle über ihren Körper abgeben zu müssen

Kliniken wird immer wieder vorgeworfen, Profite vor die Interessen der Patienten zu stellen, auch in der aktuellen Diskussion um Cytotec. Doch die Unterstellung, dass Kliniken mit Misoprostol eine Geburt "durchpeitschen", um kosteneffizienter zu arbeiten, trifft nicht zu, im Gegenteil. Eine Geburtseinleitung ist aus betriebswirtschaftlicher Sicht nicht attraktiv. Werden Wehenmittel gegeben, kann es zwei bis drei Tage dauern, bis das Kind geboren wird - in dieser Zeit ist die Frau in der Klinik. Da in Deutschland wieder mehr Kinder geboren werden, sind Kreißsäle überfüllt. Ein Kaiserschnitt wäre zeit- und kostensparender als die Einleitung und würde Planungen des Personals erleichtern.

Die Kaiserschnittrate in Deutschland schwankt zwischen 13 und mehr als 60 Prozent. Das ist nicht allein medizinisch zu erklären. Auch in Kliniken, die häufiger Risiko-Schwangerschaften und Notfälle betreuen, sind die Unterschiede groß. So hat die Geburtshilfe-Abteilung der Universitätsklinik Wien eine Kaiserschnittrate von 50 Prozent. Ihr Leiter, Peter Husslein, der in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung Geburtseinleitungen mit Misoprostol deutlich kritisierte, rät Frauen zu zugelassenen Präparaten oder Kaiserschnitten. In der vergleichbaren Geburtshilfe der Uni-Frauenklinik München-Innenstadt kamen 2019 hingegen nur 23 Prozent der Kinder per Kaiserschnitt zur Welt.

Eine geringe Kaiserschnittrate gilt in der Geburtsmedizin als erstrebenswert, denn erstens wünschen sich die meisten Frauen eine vaginale Geburt. Zweitens deckt sich der Wunsch mit internationalen Empfehlungen, eine weniger invasive Entbindung zu bevorzugen. Auch eine Routine-Operation wie ein Kaiserschnitt birgt zusätzliche Risiken, etwa eine Infektion oder Probleme bei weiteren Geburten.

Cytotec könnte demnächst sowieso aus der Geburtsmedizin verschwinden. So ist etwa in Dänemark eine Misoprostol-Tablette für die Geburtseinleitung zugelassen; Experten erwarten die Zulassung bald in Deutschland. "Dann wäre das Off-Label-Thema bei Einleitungen vom Tisch", sagt Michael Abou-Dakn.

"Wir sollten bei der Entscheidung für oder gegen die Einleitung stärker berücksichtigen, wie es dem Kind im Bauch geht"

Das Problem hinter der aktuellen Debatte liegt womöglich woanders. "Wir haben verstanden, dass es zu viele Interventionen in der Geburtshilfe gibt", sagt Abou-Dakn. Man werde daher für neue Leitlinien verstärkt hinterfragen, ob eine Einleitungsquote von 25 Prozent in Deutschland nicht zu hoch ist. "Wir sollten bei der Entscheidung für oder gegen die Einleitung stärker berücksichtigen, wie es dem Kind im Bauch geht, statt wie lange es schon drin ist", sagt Abou-Dakn. "Gefahren lassen sich auch verringern, indem man genauer hinschaut. In Deutschland werden Schwangere nach Termin öfter überwacht und untersucht als in vielen anderen europäischen Ländern", sagt Maria Delius.

Kritik an der Geburtsmedizin hat einen tieferen Hintergrund: zu wenig Zeit, zu wenig Personal. In vielen Kliniken ist nicht genug Geld für die sorgsame Betreuung Schwangerer da. Dann können Hebammen und Ärzte nicht immer ohne Zeitdruck mit der Schwangeren Risiken abwägen, auf Fragen und Sorgen eingehen, und, ganz wichtig, werdende Mütter während der Entbindung intensiv begleiten.

Viele Frauen fühlen sich entmündigt, gedrängt, haben das Gefühl, die Kontrolle über ihren Körper im Kreißsaal abzugeben und ruppig behandelt zu werden. Die Geburtsmedizin muss besser werden, dem stimmen viele Experten selbstkritisch zu. Personalmangel und rote Zahlen sind ein Problem, denn im Unterschied zu anderen Disziplinen der Medizin "haben wir eine wahnsinnige Präsenz, Tag, Nacht und wochenends sollen Hebammen, Ärzte und Oberärzte verfügbar sein - und alle Eventualitäten beherrschen", sagt Delius.

Manchmal muss zudem daran erinnert werden, dass eine Schwangerschaft keine Krankheit und eine Geburt kein Unfall ist. Trotzdem gibt es Notfälle und es ist nicht selbstverständlich, ein gesundes Kind zu bekommen. "Geburtshilfe erfordert manchmal Eingriffe", sagt Delius. "Aber es geht um zwei Menschen, die am Ende gesund die Klinik verlassen sollen. Sind die Risiken für Mutter und Kind zu groß, ist es ein Segen, wenn die Medizin eingreift."

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Quelle:
SZ vom 22.02.2020
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