Süddeutsche Zeitung

Söders Pandemie-Politik:Nach der Inzidenz kommt die Ampel

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"Ist das alte 50 noch das neue 50?": Die bayerische Staatsregierung will weg vom Inzidenzwert. Entscheidendes Kriterium für Corona-Maßnahmen soll künftig die Auslastung der Krankenhäuser sein. Allerdings müssen noch einige Fragen geklärt werden.

Von Johann Osel, München

Die Staatsregierung will den Inzidenzwert als Richtschnur ihrer Corona-Politik aufgeben, sie bereitet eine neue Systematik für die Regeln vor. "Aufgrund der hohen Impfquote ist die Methodik der ersten drei Wellen, also sich nur auf die Inzidenz zu konzentrieren, nicht mehr passend", sagte Ministerpräsident Markus Söder (CSU) am Wochenende laut einem Zeitungsbericht. Er denkt stattdessen an "eine Art Krankenhaus-Ampel", die etwa die Auslastung der Intensivstationen anzeigt, dabei rote Linien definiert und somit neue Maßgabe für Maßnahmen werden könnte.

Söder will diese strukturelle Kehrtwende demnächst seinem Ministerrat vorschlagen, Details seien noch zu klären. Auch der Zeitplan steht noch nicht fest. Im politischen München ist es allerdings bekannt, dass der Ministerpräsident Sitzungen des Kabinetts, zumal als Video-Schalte, bei Bedarf kurzfristig ansetzt. Zudem gäbe es anstelle einer Sitzung die Option des "Umlaufverfahrens" zwischen den Ministerien; auf diesem Weg wurde etwa soeben die bayerische Verordnung an die jüngsten Beschlüsse der Ministerpräsidentenkonferenz angepasst. Womöglich tut sich in der Frage Inzidenz bereits im Laufe dieser Woche etwas.

Von einem "neuen Kapitel", der Balance von "Sicherheit und Eigenverantwortung", hatte Söder im Münchner Merkur gesprochen. Wichtig sei, die Belastung des Gesundheitssystems auch künftig im Blick zu haben. Die Krankenhaus-Ampel könne die Situation auf Intensivstationen "spiegeln".

Nach Informationen der SZ geht es in Beratungen, die innerhalb der Staatsregierung angelaufen sind, nun um den Interpretationsmaßstab. Die absoluten Zahlen der Klinikbelegung oder Beatmungsfälle, auch nach Region oder Altersgruppen gegliedert, sind an sich bekannt. Söder lässt sich diese wie weitere Corona-Daten täglich vorlegen. Bei der Ampel ginge es darum, wie diese Zahlen mit Blick auf das politische Handeln einzuordnen sind - also eine Definition, wann die Lage als kritisch gilt, als noch verkraftbar oder entspannt.

"Ist das alte 50 noch das neue 50?", fragte Söder bereits vor den Ferien

Gänzlich überraschend ist Söders Idee gleichwohl nicht. Beim letzten Kabinett vor den Sommerferien hatte er angekündigt, dass angesichts des Impffortschritts andere Maßstäbe nötig seien als der starre Inzidenzwert: "Ist das alte 50 noch das neue 50?", sagte er damals. Dennoch wird die Inzidenz wohl weiterhin als Frühwarnsystem benötigt oder für spezielle Betrachtungen, zum Beispiel über das Infektionsgeschehen unter Jugendlichen. Darauf hatte Gesundheitsminister Klaus Holetschek (CSU) erst kürzlich hingewiesen.

Da es bei der Ministerpräsidentenkonferenz keine Einigung für eine neue Methodik gegeben habe, "entwickeln wir das in Bayern selbst", sagte Söder. Zudem wolle der Freistaat das baden-württembergische Modell übernehmen. Demnach werden unabhängig von der Inzidenz bisherige Öffnungen beibehalten, jedoch gilt flächendeckend die 3-G-Regel für Innenbereiche - Zutritt in Gaststätten, Fitnessstudios oder beim Friseur haben nur Personen, die geimpft, genesen oder getestet sind. Söder sieht dies auch als "Anreiz zum Impfen", zugleich biete das Modell "mehr Normalität".

Einen erneuten Lockdown schloss er aus, ein solcher sei Geimpften und Genesenen nicht zuzumuten. Er hoffe, "dass wir wegen des Impffortschritts überhaupt nicht in die Situation kommen". Eine 2-G-Regel (Zutritt für Geimpfte und Genesene, nicht für Getestete) erwägt Bayern nicht. Wenn Veranstalter dies so umsetzten, gebe es aber keine Handhabe dagegen.

Eine Erleichterung für Geimpfte, mehr Druck für Ungeimpfte

Ein neues Reglement ohne Inzidenz als Fixpunkt und mit 3-G-Regel als Standard wäre eine Lockerung beziehungsweise Vereinfachung - bei ruhigerem Pandemieverlauf entfiele das lästige Hin und Her; und Geimpfte sind sozusagen immer auf der sicheren Seite. Andererseits wäre das eine Verschärfung: Der Druck auf Nicht-Geimpfte würde steigen, erst recht, wenn im Oktober die Tests überwiegend nicht mehr kostenlos sind.

Auch ist das flächendeckende 3-G-System eine strengere Linie: Selbst wenn in einer Region die dann nicht mehr maßgebliche Inzidenz niedrig wäre oder sogar nahe null ginge, greift für Innenräume wohl der Nachweis von Impfung, Genesung oder Test. In Baden-Württemberg, Söders Vorbild in der Frage, ist das der Fall.

Lob für den Vorstoß gibt es vom Koalitionspartner, den Freien Wählern. Sie forderten seit Langem, den Inzidenzwert abzuschaffen oder zu ergänzen. Auch deshalb kam es oft zum Disput mit der CSU. Fabian Mehring, parlamentarischer Geschäftsführer der FW, sprach am Sonntag von einem "Zankapfel" in der Koalition, der jetzt ausgeräumt werde. Er begrüße Söders Ankündigung, "vom Inzidenzwert als allein selig machender Corona-Kennziffer abzurücken". Das geplante Ampelsystem sei "die richtige Strategie für den nahenden Herbst" - weil die Inzidenz mit zunehmender Durchimpfung an Aussagekraft verliere, positive Tests und Hospitalisierung seien längst entkoppelt. 3 G müsse "unsere Zauberformel werden, um Normalität und Sicherheit unter einen Hut zu bringen".

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Quelle:
SZ vom 23.08.2021
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