Süddeutsche Zeitung

Familienpolitik in Bayern:Bayern braucht 30 000 neue Kita-Fachkräfte in vier Jahren

Lesezeit: 3 min

Von Helena Ott, München

Alleine mit 25 Kindern, wenn die Kollegin wieder einmal krank ist, schlechte Bezahlung, Stress und ein Geräuschpegel wie auf dem Rollfeld - das wäre wohl eine ehrliche Stellenausschreibung für Erzieherinnen in vielen bayerischen Kindergärten. So sieht das Christine Hofner vom "Bündnis Kita Bayern". Sie ist Erzieherin und arbeitet bei einem Kindertagesstättenträger in München. Ihr Partner im Bündnis, Tobias Kimura, Leiter eines Hortes, berichtet ebenfalls von einem "ständigen Spagat" zwischen individueller Betreuung der Kinder und Zeitnot.

Keine attraktiven Anreize, um Berufseinsteiger zu gewinnen. Das macht die Aufgabe von Christine Hofner so schwer: "Wenn ich mal alle Stellen in den mehr als zehn Einrichtungen besetzt habe, habe ich wirklich was zu feiern." Deutschlandweit haben laut einer repräsentativen Befragung des Verbandes Bildung und Erziehung im März 90 Prozent der Einrichtungen in den vergangenen zwölf Monaten mit weniger Personal gearbeitet, als sie bräuchten. Und der Mangel verschärft sich: Eine Landtagsanfrage der SPD ergab, dass laut Berechnungen des Deutschen Jugendinstituts im Freistaat von 2018 bis 2023 zusätzlich 19 400 Fachkräfte, also Erzieher, und 10 000 Ergänzungskräfte, also Kinderpfleger, gebraucht werden.

Zum Vergleich: Im Jahr 2017 schlossen 3064 Absolventen die Fachakademie als fertig ausgebildete Erzieher ab. In fünf Jahren wären das also rund 15 000 neue Fachkräfte, gleichzeitig gehen aber auch Angestellte in Rente oder quittieren wegen der hohen Belastung den Beruf. "Ich kenne kaum Kollegen, die bis zur Rente durchhalten", sagt eine Krippenerzieherin im Landkreis Freising. Häufig seien es Knie- oder Rückenprobleme, vom Hochheben oder weil man viel gebückt arbeitet, um mit den Kindern auf Augenhöhe zu sprechen. "Oft ist es aber auch die Psyche und Kollegen müssen wegen eines Burn-outs zu Hause bleiben", sagt die Erzieherin.

Der Kampf ums Personal wird immer härter: "Es gibt mittlerweile aggressive Abwerbepraktiken mit Headhuntern zwischen den Einrichtungen", sagt Hortleiter Tobias Kimura. Immer häufiger müssten Einrichtungen Bewerber mit Bedienstetenwohnungen oder Yogakursen locken. Dabei kämpfen die Träger mit ungleichen finanziellen Mitteln. Staatsregierung und Kommunen teilen sich den Großteil der Kosten für einen Kitaplatz, der Rest wird über Beiträge finanziert. Je nach finanziellen Mitteln einer Kommune - und politischem Willen - schießt sie weiteres Geld zu. Im Ergebnis haben Kinder in Bayern ungleiche Chancen auf individuelle Förderung. Städtische und kirchliche Einrichtungen schaffen es im Kampf ums Personal auch oft nicht mehr, mit Betriebs-Kitas großer Unternehmen zu konkurrieren.

Dabei ist die Zahl der Fachkräfte in Kitas sogar immens gestiegen, von 26 775 Erziehern im Jahr 2008 innerhalb von zehn Jahren auf 46 215 Erzieher im Jahr 2018. Nur hat sich eben auch der Bedarf extrem vergrößert. Das Sozialministerium will mit einem Fünf-Punkte-Plan mehr Personal gewinnen. So soll etwa die Ausbildung attraktiver gemacht werden, auch für Abiturienten. Und mit den Mitteln aus dem Gute-Kita-Gesetz will Sozialministerin Kerstin Schreyer Leitungs- und Verwaltungsboni einführen, um den Führungskräften mehr Zeit für ihre Leitungsaufgaben einzuräumen und pädagogisches Personal zu entlasten. Allerdings kritisieren Träger und Fachleute, dass der Freistaat das Geld aus dem Gute-Kita-Gesetz vor allem dafür verwendet, die Elternbeiträge mit 100 Euro zu bezuschussen. So fließt weniger Etat in Personal und Qualität. Und wenn die Beiträge sinken, buchen Eltern künftig womöglich längere Zeiten für ihre Kinder - was wiederum den Personalmangel verschärfen würde.

Das "Bündnis Kita Bayern" fordert deshalb mehr Geld pro Kind für die Tagesstätten. Nur so könnten die Kinder altersgerecht gefördert werden. "Wir brauchen dringend auch einen besseren Personalschlüssel, um unsere Mitarbeiter künftig vor Überlastung zu schützen", sagt Erzieherin Christine Hofner. So lange die Staatsregierung hier nicht deutlich mehr investiere, bestehe ein Teufelskreis: Der Beruf werde wegen der Belastung immer unattraktiver, was den Personalmangel zementiere.

Im Kollegium so mancher Trägerschaft ist es ein häufiger Wunsch, einfach einmal eine normale Woche zu haben, in der man zu Zweit mit der eigenen Gruppe arbeiten kann. Doch fast immer sind Mitarbeiter krank, haben Urlaub oder sind auf Fortbildung. Schnell ist eine Erzieherin dann mit 25 Kindern alleine. In den letzten 15 Jahren sei der Personalschlüssel kaum angehoben worden, "obwohl die Anforderungen enorm gestiegen sind", sagt Christine Hofner. Für jedes Kind muss eine Dokumentation mit Fotos gepflegt werden, in der Entwicklungsschritte skizziert werden. Die Kinder werden sprachlich geschult, sollen erste naturwissenschaftliche Erkenntnisse gewinnen und in ihrer Kreativität gefördert werden. Mit dem Bayerischen Bildungs- und Erziehungsplan besteht also eine Art Lehrplan für Erzieher. Im Gegensatz zu Lehrern sind bei ihnen so etwas wie Vorbereitungszeiten oder Elterngespräche aber nicht im Personalschlüssel eingeplant. "Das wäre so, als müsste ein Lehrer seine Schulaufgaben im voll belegten Klassenzimmer korrigieren", sagt Hofner.

"Füttern. Wickeln. Schlafen legen. Manchmal kommen wir einfach nicht zu mehr", sagt die Erzieherin aus dem Landkreis Freising. Dabei gäbe es tolle Methoden, Sozialverhalten und Selbstbewusstsein der Kinder zu fördern. Das Handwerkszeug in Entwicklungspsychologie und Pädagogik hätten Erzieher. Wenn sie es denn trotz des Zeitmangels anwenden können. Und sich überhaupt erst einmal für den Beruf entscheiden. Fünf Jahre Ausbildung an der Fachakademie, komplett unbezahlt. Dann ein Einstiegsgehalt von knapp 2800 Euro brutto, das mit Berufserfahrung kaum ansteigt. "Das ist ein schöner Zweitverdienst, aber eine Familie kannst du davon nicht ernähren", sagt Eva Feulner, Erzieherin aus Unterfranken.

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Quelle:
SZ vom 16.08.2019
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