Gesundheit in Bayern:Jeder zweite Corona-Tote lebte im Heim
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Bewohner von Pflegeeinrichtungen sind besonders gefährdet, sich mit Sars-CoV-2 zu infizieren und zu sterben. Zahlen des Gesundheitsministeriums zeigen auch, dass der von der Politik erhoffte Schutz dort wohl nicht ausreichte.
Von Andreas Glas, München
Vor ein paar Tagen sagte Markus Söder (CSU), dass die Staatsregierung "nichts verschlafen" habe im Kampf gegen die Pandemie. Dass auch er selbst "ganz gut gelegen" sei mit seinen Einschätzungen in der Corona-Krise. Sehr selbstbewusst, so kennt man den Ministerpräsidenten. Aber dann, ein Moment der Selbstkritik: "Nicht perfekt" sei alles gelaufen. Es gebe "Dutzende Einzelpunkte", bei denen man vielleicht früher oder später hätte handeln können. Die schwierige Lage in Alten- und Pflegeheimen etwa "schmerzt immer noch", sagte Söder.
Immer wieder kursieren ja Zahlen, die nahelegen, dass die Corona-Fälle in Heimen die Infektionskurve und vor allem die Todesfälle in Bayern ganz wesentlich nach oben treiben. Doch eine Anfrage der Süddeutschen Zeitung nach dem exakten Anteil der Corona-Toten in Alten- und Pflegeheimen an der Gesamtzahl der Corona-Toten ließ das Gesundheitsministerium wochenlang unbeantwortet, trotz mehrfacher Nachfragen. Nun hat das Ministerium reagiert - und beunruhigende Antworten geliefert: Seit Beginn der Pandemie war fast jeder zweite Corona-Tote in Bayern ein Bewohner oder eine Bewohnerin einer stationären Pflegeeinrichtung. Konkret: mindestens 48,7 Prozent, also 3933 Menschen (Stand 12. Januar).
"Wahnsinn", sagt Ruth Waldmann. Auch der gesundheitspolitischen Sprecherin der Landtags-SPD waren die Gesamtzahlen bisher unbekannt. Die Statistik mache einmal mehr deutlich, wie gefährlich die Lage in den Heimen sei "und wogegen wir ankämpfen müssen". Nun, da die Zahlen auf dem Tisch liegen, "kann das niemand mehr ignorieren und kleinreden", sagt Waldmann.
Das ist ja die Kritik, die sich Söder in den vergangenen Monaten immer wieder aus der Opposition anhören musste: Dass er sehr oft über Reiserückkehrer und über die langen Außengrenzen des Freistaats gesprochen habe, wenn jemand nach den Gründen für das hohe Infektionsgeschehen in Bayern fragte - und seltener über Alten- und Pflegeheime. Belegt die hohe Todesrate in den Heimen also, dass Söder die Gefahr in den Senioreneinrichtungen unterschätzt hat?
Dieser Verdacht begleitet den Ministerpräsidenten seit Beginn der Pandemie. Dabei hatte er bereits im März in einer Regierungserklärung gesagt, dass "ein hohes Risiko für ältere Menschen" bestehe und versprochen: "Diese Menschen müssen wir schützen." Das tat Söder dann auch. Die Staatsregierung griff hart durch, machte Alten- und Pflegeheime dicht und schränkte die Besuche stark ein. Trotzdem war die Todesrate in Bayern in den ersten Monaten der Pandemie pro 100 000 Einwohner doppelt so hoch wie im Bundesschnitt. Einen Grund für die vielen Todesfälle sah das Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit (LGL) schon damals in mehreren größeren Ausbrüchen in Alten- und Pflegeheimen. Zu Beginn der Pandemie mangelte es dort unter anderem an Schutzkleidung. Dieses Problem ist inzwischen gelöst.
Man muss allerdings unterscheiden zwischen den Todesfällen und den Infektionszahlen. Denn während zwar fast jeder zweite Corona-Tote in Bayern ein Heimbewohner ist, liegt deren Anteil an den Infektionen deutlich niedriger - zum Stichtag 12. Januar etwa bei rund 9,6 Prozent, auch diese Zahl teilt das Gesundheitsministerium mit. Wenn Ministerpräsident Söder also auch auf die Grenznähe verweist, um die hohen Infektionszahlen in bestimmten Hotspot-Regionen zu erklären, dann ist das zunächst kein Widerspruch zu den hohen Todesraten in Alten- und Pflegeheimen. Und eine Politik, die auf allgemeine Kontaktbeschränkungen setzt, zielt natürlich auch darauf ab, dass sich insgesamt weniger Menschen infizieren, die das Virus dann in die Heime tragen - vor allem Pflegekräfte und Angehörige, die zu Besuch kommen. "Experten sagen eindeutig, dass es ab einer bestimmten Höhe der Infektionszahlen und bei einem diffusen Infektionsgeschehen nahezu unmöglich ist, Alten- und Pflegeheime komplett vom Virus frei zu halten", sagte Ministerpräsident Söder vor Kurzem dem Aschaffenburger Main Echo.
Trotzdem: Auch die Zahl der Infektionen ist in Heimen wesentlich höher als außerhalb. Legt man die Gesamteinwohnerzahl Bayerns (13,1 Millionen) und die Zahl der Pflegeheimbewohner (131 500, Stand Dezember 2019) neben die Infektionszahlen, kommt man zum Ergebnis, dass etwa ein Prozent der Bayern in Heimen lebt, aber zuletzt rund zehn Prozent aller Ansteckungen dort verzeichnet wurden. Was man natürlich berücksichtigen muss: Dass sich das Virus in geschlossenen Einrichtungen, in denen sich die Nähe zwischen Bewohnern und Pflegepersonal nicht verhindern lässt, leichter verbreiten kann als anderswo. Und dass in Heimen eben alte und oftmals schwache Menschen mit Vorerkrankungen leben, die leichter am Coronavirus sterben als jüngere, gesunde Menschen. Dennoch bleibt unter dem Strich die Erkenntnis, dass die Maßnahmen von Heimbetreibern und Politik letztlich wohl nicht den Schutzeffekt gebracht haben, den man sich erhofft hatte.
Angesichts der hohen Todeszahlen in den Heimen sieht sich die SPD-Abgeordnete Ruth Waldmann in ihrer Kritik bestätigt, wonach der Freistaat seine Test-Kapazitäten nicht optimal eingesetzt habe - ein Vorwurf, der auch aus anderen Oppositionsfraktionen zu hören war. "Es wäre wichtig gewesen, die Kapazitäten sehr viel stärker auf Heime zu konzentrieren" statt Corona-Tests für alle Menschen anzubieten, sagt Waldmann. Es dauerte bis in den Dezember, bis die Staatsregierung beschloss, dass jeder Besucher eines Alten- oder Pflegeheimes einen negativen Corona-Test vorlegen und FFP2-Maske tragen muss - und dass auch das Pflegepersonal zweimal pro Woche getestet werden muss. Inzwischen wurde die Zahl der wöchentlichen Tests auf drei erhöht.
Die Hoffnung für die Menschen in den Heimen liegt nun auf den Impfungen. Laut Ministerpräsident Söder hatten bis zum vergangenen Mittwoch 62 Prozent der Bewohner in Altenheimen die Erstimpfung bekommen.