Süddeutsche Zeitung

Corona-Proteste:Flaneure und Fanatiker

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Demos, Spaziergänge, Fantasieschulen - die "Querdenker"-Szene agierte 2021 zunächst überschaubar, seit der Debatte über Impfpflicht mobilisiert sie stärker.

Von Johann Osel und Viktoria Spinrad, München

Im Januar zum Beispiel waren es 180 Teilnehmer bei einer "Kundgebung für körperliche Unversehrtheit" in Kempten oder 60 beim "Spaziergang für Freiheit" in Bamberg, im Februar gingen 100 Personen in Waldkirchen gegen die angebliche "Hygienediktatur" auf die Straße. Das ging ungefähr so weiter in der ersten Jahreshälfte 2021:

Obwohl damals in der dritten Pandemie-Welle weitaus strengere Maßnahmen für die breite Bevölkerung galten als später im Jahr, hielten sich Corona-Demos, "Querdenker"-Aufzüge und Aktionen von Rechtsextremisten in Bayern im Rahmen, Großveranstaltungen waren die Ausnahme. Insgesamt registrierten die Behörden eine überschaubare Protestszene, wie eine Liste des Innenministeriums auf SPD-Anfrage im Mai zeigte. Dann kam der Sommer, mit entspannter Infektionslage und dem Wahlkampf, der Corona fast zum Nebenaspekt verkommen ließ.

Die Debatte über eine Impfpflicht und neue Regeln wie 2G mit Nachteilen für Ungeimpfte haben den Protesten wieder Nahrung gegeben. Im Dezember hatte es die Polizei mit Großdemos wie in Schweinfurt und Nürnberg zu tun. Daneben florieren vermeintliche "Spaziergänge" in Dutzenden Orten: ein Trick, um die Anmeldung von Veranstaltungen und Auflagen zu umgehen. Das ist gefährlich, weil die "Spaziergänge" teils rasch anschwollen oder in Gewalt eskalierten - gefährlich für die öffentliche Sicherheit sowie wegen der aufziehenden Omikron-Welle.

Mit Polizeipräsenz und Verfügungen gegen mobile Proteste setzte der Staat zuletzt dagegen. "Querdenker" können mit der Impfpflicht mobilisieren, viele dezentrale "Spaziergänge" lassen den Protest aber größer erscheinen, als er tatsächlich ist. Innenminister Joachim Herrmann (CSU) sagte zur Einordnung: "Bei einer Impfquote von 70 bis 80 Prozent ist ganz eindeutig, dass die Mehrheit der Bevölkerung keine Impfgegner sind."

2021 erregten "Querdenker" zudem im Bildungsbereich Aufsehen. Wie Mitte September eine illegale Schule im Landkreis Rosenheim: Dort unterrichtete eine krankgeschriebene Lehrerin auf einem verlassenen Bauernhof Scharen von Kindern auf vermeintlich russischem Boden. Das ging, weil sich diese zu dem Zeitpunkt noch wegen der Testpflicht vom Präsenzunterricht befreien lassen konnten.

Um dem Einhalt zu gebieten, musste das Kultusministerium fortan tief ins rechtliche Repertoire greifen. Von Oktober an galten Testverweigerer als Schulschwänzer, mindestens ein Schüler wurde darauf von der Schule geworfen. Aus Fantasieschulen wurden in der Folge zunehmend "Lerngruppen" - die unterliegen keiner Genehmigungspflicht.

Treibende Kraft dahinter war ein Zauberkünstler, der mit seinem Verein zweifelnde Eltern auf Telegram zusammentrommelte. Wo es geht, ist der Freistaat mittlerweile wenig zimperlich beim eigenen Personal. Im Dezember ließ er eine Lehrerin vom Dienst suspendieren, die in der Schule keine Maske tragen wollte. Kein Einzelfall: Mehr als ein Dutzend ähnliche Verfahren laufen.

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