Süddeutsche Zeitung

Psychologie:Brot backen, Fahrrad fahren, Spanisch lernen

Lesezeit: 2 min

Wohl dem, der ein Hobby hat: Weil im Lockdown-Alltag das Gefühl von Kontrolle verloren geht, sind konkrete Freizeitplanungen gerade besonders wichtig.

Von Sebastian Herrmann

Die Klopapierregale im Supermarkt sind längst wieder aufgefüllt, und auch das Angebot an Nudeln oder Hefe bleibt so üppig, dass selbst ängstliche Hamsterkäufer entspannen dürfen. An anderer Stelle herrscht hingegen Knappheit: Fahrradfirmen machen das Geschäft ihres Lebens, Ersatzteile sind kaum zu bekommen, Räder ausverkauft, und Nachschub lässt auf sich warten. In der Pandemie hat die halbe Welt offenbar das Radfahren für sich entdeckt und rollt nun durch die Landschaft - also wenn sie nicht gerade Brot backt, die Wohnung dekoriert, Fremdsprachen lernt und oder beim Tele-Yoga ist. Im Alltag zwischen Lockdown, Brückenlockdown, Wellenbrecherlockdown und Notbremsenlockdown verhalten sich viele Menschen also im Sinne ihrer seelischen Gesundheit: richtig. Denn wenn einem das Gefühl von Kontrolle über das Leben genommen wird, werden geplante, durchaus ehrgeizige Freizeitaktivitäten umso wichtiger.

Gerade haben Psychologen um Sascha Abdel Hadi von der Universität Gießen eine Studie im Fachjournal Anxiety, Stress & Coping publiziert, die diesen Schluss nahelegt. Die Daten stammen aus einer gefühlt vor Ewigkeiten vergangenen Zeit, dem ersten Lockdown im Frühjahr 2020. Damals war alles neu, beängstigend und in der Rückschau vielleicht sogar ein wenig aufregend. "Es war eine sehr unsichere Zeit", sagt Abdel Hadi, "und wir haben uns gefragt, wie die Menschen mit dem plötzlichen Wechsel ins Home-Office umgehen." Die Psychologen sammelten Daten von 178 Teilnehmern, die während des ersten Lockdowns im April 2020 eine Art Tagebuch führten. Die Probanden beantworteten mehrmals täglich Fragen zu ihrem Umgang mit der Arbeit im Home-Office: Wie sie mit den neuen Anforderungen zurechtkamen, wie sich private Aufgaben neben dem Beruf erledigen ließen, wie sie ihre Freizeit gestalteten und wie sich ihr emotionaler Zustand in der Zeit entwickelte.

Das Gefühl von Kontrolle ist ein menschliches Grundbedürfnis

Die Entgrenzung von Beruf und Familie, das Gefühl der Unsicherheit und die verengte Situation verstärkten Stressgefühle. "Das Gefühl von Kontrolle und Autonomie ist ein menschliches Grundbedürfnis", sagt Abdel Hadi, "im Lockdown wird das den Menschen geraubt." Das wird jeder sofort nachvollziehen: Das Frühjahr 2020 ist lange her, und die Menschen hocken noch immer in der Unfreiheit des Pandemie-Chaos: Ausgangssperren, Inzidenzwerte, Kontaktbeschränkungen und irgendwie blickt kaum noch jemand durch, was nun gerade erlaubt ist und was nicht. Da geschieht es schnell, in eine zynische Resignation abzugleiten, frustriert auf dem Sofa Netflix zu glotzen und darüber nachzudenken, ob man nicht mal weniger Alkohol trinken sollte. Willkommen in der großen Passivität.

"Eine proaktive Freizeitgestaltung kann gegen diese Zustände wirken", sagt der Psychologe Abdel Hadi. Sich in der Freizeit selbst zu fordern, sich ehrgeizige Ziele zu setzen und neue Dinge auszuprobieren, klingt erst mal kontraproduktiv. Warum sollte man sich in der freien Zeit auch noch Stress machen, wenn man schon im Beruf - egal ob im Büro oder zu Hause - hässlich viel zu tun hat? "Es schenkt einem das Gefühl, wirklich selbst gestalten zu können", sagt Abdel Hadi. Wer sich der Arbeit und der Situation im Lockdown ausgeliefert fühle, könne dem in seiner Freizeit kompensatorisch entgegenwirken. Worauf es dann konkret hinausläuft, ist egal: Ehrgeizig lange Fahrradtouren zeigen ähnliche Wirkung wie andere Projekte, ob das nun Backen, das Erlernen einer Fremdsprache, Yoga, Musik oder sonst etwas ist. Die Freizeit mit einem Plan in die eigenen Hände zu nehmen, beugt Zuständen emotionaler Erschöpfung laut der Studie der Psychologen vor. Und jetzt: Raus aufs Rad!

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