Süddeutsche Zeitung

Industrie:Wie Martina Merz mit Thyssenkrupp die Kurve kriegte

Lesezeit: 3 min

Deutschlands größter Stahlhersteller habe die Abstiegszone verlassen, sagt seine Chefin. Die ungewöhnliche Geschichte einer Frau, die Thyssenkrupp aus seiner existenziellen Krise führte.

Von Benedikt Müller-Arnold, Düsseldorf

Zu früher Ruhm ist Martina Merz nicht geheuer. Als die Wirtschaftszeitschrift Manager Magazin die Thyssenkrupp-Chefin jüngst zur wichtigsten Frau der deutschen Wirtschaft kürte, gab sich Merz skeptisch. Sie wolle lieber weiter umbauen, statt sich feiern zu lassen. Und als Vorbild für weibliche Karrieren halte sie - unverheiratet, ohne Kinder - sich auch nicht: "Meine Biografie hinterlässt den Eindruck, dass Frauen es nur mit vollem Fokus auf die Karriere zu etwas bringen können", so die 58-Jährige. In ihrer Generation hätten die wenigen Managerinnen oft keine Familie gehabt, das sei in dieser Einseitigkeit kein Modell für die Zukunft.

Bei allem Understatement schlägt Merz in der digitalen Hauptversammlung an diesem Freitag dennoch recht feierliche Töne an: "Wir haben die Abstiegszone verlassen", heißt es in ihrer Rede. "Wir wollen, und wir werden wieder oben mitspielen."

Tatsächlich ist es eine ungewöhnliche Wendung, wie jene Frau aus dem Schwabenland diesen männergeprägten Ruhrkonzern aus seiner existenziellen Krise geführt hat. Zumindest bis hierhin.

Merz hatte nach dem Maschinenbaustudium mehr als 20 Jahre lang für Bosch gearbeitet, leitete dereinst als allererste Frau ein Werk des großen Autozulieferers. 2015 sollte eine ruhigere Zeit beginnen, als Aufsichtsrätin etwa bei Lufthansa und Thyssenkrupp; dort wurde Merz Chefkontrolleurin. Doch mit der Ruhe war es 2019 vorbei.

Merz analysierte die Lage knallhart

Damals hatte Thyssenkrupp zwar eine profitable Aufzugssparte, doch andere Geschäfte wie der Anlagenbau häuften Verluste an. Auf Deutschlands größtem Stahlkonzern lasteten Milliardenschulden, nachdem er sich vor Jahren mit Stahlwerken in Amerika verzockt hatte. Hinzu kamen hohe Pensionsverpflichtungen. Unter dem Strich blieben Verluste - und zu wenig Geld für Investitionen.

In dieser Lage entsandte sich Merz vor zweieinhalb Jahren praktisch selbst aus dem Aufsichtsrat an die Vorstandsspitze - ein seltener Vorgang - und löste Guido Kerkhoff ab. Seitdem sitzt sie im holzvertäfelten Chefbüro jener stolzen Zentrale aus Glas und Stahl in Essen. "Ich sitze hier auf Möbeln, da komme ich nicht mal mit den Füßen auf den Boden", sagte sie im Interview.

Merz brauchte knapp vier Monate für eine Entscheidung, die keiner zuvor übers Herz gebracht hatte: Sie verkaufte das Aufzugsgeschäft, den ganzen Stolz, für gut 17 Milliarden Euro. Nur so könne Thyssenkrupp "wieder Fahrt aufnehmen", argumentierte Merz, es war das Ergebnis ihrer nüchternen Analyse.

Nach dem Verkauf konnte Thyssenkrupp Schulden tilgen und wieder mehr investieren: in neue Beschichtungen für Autobleche etwa oder den Bau immer größerer Wälzlager für Windräder. Und der Konzern verkraftete Abschreibungen und Einbußen während der Corona-Krise, ohne dass ihm das Geld ausging.

Mehrspurig fahren, Kosten senken: Merz' fordernde Art kann auch eine Zumutung sein

Berühmt-berüchtigt ist intern, dass sich Merz Alternativen möglichst lang offenhält: Soll es zwischenzeitlich ruhig heißen, dass Thyssenkrupp die Aufzugssparte auch an die Börse bringen könnte, soll der Konkurrent Kone ruhig sagen, wie gern man fusionieren möchte. "Wenn's ganz klasse werden soll, empfehle ich mehrspurig", diese Lebensweisheit verbreitete Merz einst via Twitter.

Thyssenkrupp mutet sie nach eigenem Bekunden den größten Umbau aller Zeiten zu. Jeden Stein habe sie umgedreht - und in der Folge auch den Verkauf verlustreicher Töchter besiegelt: etwa das Geschäft mit Bergbaumaschinen oder ein Edelstahlwerk. Insgesamt sollen bei Thyssenkrupp im Laufe der Jahre bis zu 12 000 Stellen wegfallen.

Gehört eine Sparte nicht zu den besten drei ihrer Branche, dann hat sie einen schweren Stand. Noch hat Merz gar nicht alle Töchter verkauft, für die Thyssenkrupp ihrer Ansicht nach nicht der beste Eigentümer ist; die Zukunft etwa des Zementanlagenbaus ist noch offen. "Hier drängt die Zeit für eine Lösung", mahnt Ingo Speich von Deka, dem Fondshaus der Sparkassen.

Auch weil Abfindungen jeden Stellenabbau zunächst teuer machen, meldet Thyssenkrupp für das vergangene Geschäftsjahr einen - für einen Milliardenkonzern noch überschaubaren - Verlust von 25 Millionen Euro. Abermals könne man den Aktionären keine Dividende zahlen, sagt Merz. "Aber wir arbeiten hart daran." Immerhin melden jene Geschäfte, an denen Merz festhalten will, deutlich höhere Gewinne als vor Antritt der Chefin. Allerdings sind jeweilige Konkurrenten noch immer profitabler, wie Investoren seit Jahren kritisieren.

Thyssenkrupp sollte das Rüstungsgeschäft verkaufen, fordert das Fondshaus Deka

Thyssenkrupp habe einen Gutteil des Umbaus hinter sich, "den Rest schaffen wir auch noch", sagt die Konzernchefin. Freilich zählt zu diesem Rest auch noch das komplexe Vorhaben, die Stahlwerke mit etwa 26 000 Beschäftigten an Rhein und Ruhr in eine eigenständige Firma auszulagern. Das Stahlgeschäft sei schwankungsanfälliger als die anderen Sparten, sagt Merz.

Derweil ständen höhere Preise für CO₂-Emissionsrechte und Kohle an, warnt Deka-Vertreter Speich, "und bedrohen die Existenz des Stahlgeschäfts." Dem erfahrenen Hauptversammlungsredner geht der Umbau noch nicht weit genug: Seines Erachtens sollte Thyssenkrupp auch das Rüstungsgeschäft mit Marineschiffen verkaufen, da dessen Gewinn in keinem Verhältnis zum Imagerisiko stehe. Der Konzern selbst prüft, ob die Marinesparte mit Konkurrenten fusionieren könnte; danach müsste Thyssenkrupp auch nicht mehr unbedingt die Mehrheit daran halten.

Letztlich, kritisiert Speich, hat Thyssenkrupp auch im vergangenen Geschäftsjahr Geld verbrannt. "Ob sich der gesamte Konzern stabilisiert, bleibt abzuwarten."

Nachdem Martina Merz' Zeit an der Thyssenkrupp-Spitze wie ein Feuerwehreinsatz begann - als Wohnsitz diente anfangs ein Kongresshotel -, fragt man sich mittlerweile, ob Merz ihren Dreijahresvertrag bis März 2023 nicht noch verlängern könnte. Bislang sagt sie nichts dazu, bloß, dass sie nicht noch woanders Chefin werden will. Irgendwann solle die ruhigere Zeit ja auch wirklich mal beginnen.

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