Expansionspläne:Am einstigen Traum von Thyssenkrupp verdienen nun andere

Thyssenkrupp zieht Schlussstrich unter Fehlinvestition

Das ehemalige Stahl- und Hüttenwerk von Thyssenkrupp an der Sepetiba-Bucht bei Rio de Janeiro.

(Foto: picture alliance / dpa)
  • Ein Stahlwerk in Brasilien und ein Walzwerk in den USA haben Thyssenkrupp einst Milliarden gekostet. Mittlerweile hat der Konzern diese Werke verkauft und steckt in der Krise.
  • Die neuen Besitzer verdienen heute allerdings viel Geld mit diesen Werken. Hat Thyssenkrupp sich vielleicht zu schnell zurückgezogen?

Von Benedikt Müller, Düsseldorf

Der "eiserne Ekki": Seinen Spitznamen mag Ekkehard Schulz, 78, bis heute. Lange hat er geschwiegen, doch jetzt redet er. Schulz war Chef des Stahlunternehmens Thyssen, fädelte die Fusion mit Krupp ein und führte bis 2011 den neuen Konzern. Er wollte Deutschlands größten Stahlhersteller zum Weltkonzern formen: mit einem neuen Hüttenwerk nahe Rio de Janeiro und einem Walzwerk in den USA, das den Stahl aus Brasilien zu Autoblech veredelt. Mit der Expansion begann für viele Absturz der Traditionsfirma.

Wenn Schulz heute in seiner weißen Villa in Krefeld, zwischen dem Stadtwald und einem Naturschutzgebiet gelegen, zum Kaffee lädt, dann sagt er noch immer: "Die Amerika-Strategie halte ich nach wie vor für richtig." Gut 40 Kilometer weiter hingegen, in der gläsernen Zentrale von Thyssenkrupp in Essen, ist Brasilien wie ein großes Trauma. Der Bau dauerte länger und kostete mehr als geplant, Thyssenkrupp schrieb Milliarden ab, verkaufte die Werke, steckt in der Existenzkrise. "Wir leiden immer noch unter den Folgen der Fehlinvestitionen in Brasilien und den USA", konstatierte gerade die neue Vorstandschefin Martina Merz. Kurz vor der Hauptversammlung Ende dieses Monats ist die Eigenkapitalquote so niedrig, dass der Konzern nun das hochprofitable Aufzugsgeschäft abgeben will.

Das Amerika-Abenteuer der Essener ist ein tragisches Stück Wirtschaftsgeschichte: geschrieben von unterschiedlichen Menschen mit unterschiedlichen Perspektiven zu unterschiedlichen Zeiten. Während Merz von einem "Desaster" spricht, betont Schulz, dass die Werke in Übersee heute hochwertige Produkte lieferten und wirtschaftlich erfolgreich seien.

Hat Thyssenkrupp also zu früh die Geduld verloren und die Werke verramscht?

Tatsächlich überrascht auf den ersten Blick, wie profitabel beide Fabriken heute sind. Beispiel Arcelor-Mittal: Der weltgrößte Stahlhersteller hat das Walzwerk übernommen, das Thyssenkrupp in Alabama baute. Er kaufte es zusammen mit Nippon Steel für eine gute Milliarde Euro; beiden Konzernen gehört es zur Hälfte. Allein für seinen Teil meldete Arcelor-Mittal zuletzt einen Jahresgewinn von 280 Millionen Euro, nach ebenfalls stattlichen 240 Millionen Euro im Vorjahr - eine gute Rendite.

Auch die Hütte bei Rio läuft auf Touren. Der neue Eigentümer Ternium verzeichnete zuletzt ein Rekordjahr; man sei zufrieden, heißt es. Im gerade abgelaufenen Jahr seien die Gewinnmargen zwar "unter Druck" geraten, da Brammen-Preise weltweit zurückgegangen und Eisenerzkosten gestiegen sind. Das einstige Thyssenkrupp-Werk sei aber "trotz der ungünstigen Marktentwicklung im Jahr 2019 wettbewerbsfähig" geblieben.

Der Erfolg einzelner Werke sei noch kein Beweis für das Gelingen der ganzen Strategie, heißt es vom Konzern

Freilich weiß auch Ekkehard Schulz von den Problemen, die es bei der Umsetzung seiner Strategie gegeben habe. "Hier sind Fehler gemacht worden", räumt der Manager ein. Beispielsweise zogen Mängel an der Kokerei bei Rio das Projekt damals hin und verteuerten es deutlich. Alleine für alle Bauten flossen etwa zehn Milliarden Euro aus der Konzernkasse. "Mein Fehler war, dass ich Menschen zu lange vertraut habe, die dieses Vertrauen missbraucht haben", sagt Schulz. Dafür habe er die politische Verantwortung übernommen, als er Ende 2011 dann auch den Aufsichtsrat von Thyssenkrupp verließ.

Und kaum hatte der Konzern 2010 den Hochofen angeblasen, stiegen Erzpreise und Löhne, die Landeswährung Real wertete auf. Dies verteuerte den Stahl aus dem Süden, während die Nachfrage in den USA und Europa nach der Finanzkrise schwächelte. Die Werke häuften Verluste an. Daher betont man bei Thyssenkrupp: Dass die Werke heute einzeln gut verdienen, bedeute noch lange nicht, dass die ursprüngliche Idee funktioniert hätte - nämlich, Stahl in drei verschiedenen Währungsräumen herzustellen und weiterzuverarbeiten. Tatsächlich macht sich auch Arcelor-Mittal in Alabama zusehends unabhängiger von den Brammen aus Brasilien.

Schulz' Nachfolger stellte die Fabriken zum Verkauf: Gute Renditen seien dort "nicht mehr absehbar"

Hinzu kam, dass Schulz' Nachfolger Heinrich Hiesinger von 2011 an eine völlig andere Strategie verfolgte. Der frühere Siemens-Manager verwies auf weltweite Überkapazitäten im Stahlmarkt, die vielen Billigimporte und schwankenden Preise. Stattdessen sollte Thyssenkrupp ein "starker Industriekonzern" rund um Aufzüge, Anlage und Autoteile werden. Doch sah Hiesinger dabei, so betont man in Essen, dass manche Investition hintanstehen musste, da der Konzern viel Geld in Amerika verlor. Der heute 59-Jährige, der 2018 ging, weil er die Unterstützung mancher Aufsichtsräte und Aktionäre vermisste, prüfte, ob die Werke in Übersee wirklich die Milliarden wert waren, mit denen sie in der Bilanz standen. Ende 2011 schrieb Thyssenkrupp die ersten zwei Milliarden Euro ab. Das Gutachten einer Beratungsfirma habe das ganze Ausmaß der Wertminderungen offengelegt, sagte der damalige Aufsichtsratschef Gerhard Cromme kurz darauf in der Hauptversammlung.

2012 stellte Hiesinger die Werke zum Verkauf. Es sei "nicht mehr absehbar", dass man dort in den nächsten Jahren gute Renditen erwirtschaften könnte. Der Aufsichtsrat ließ sich von externen Experten bestätigen, dass sich "viele Annahmen des damaligen Vorstands" als "deutlich zu optimistisch" oder "im Nachhinein als falsch herausgestellt" hätten. Die Werke in Amerika würden "auch mittelfristig nicht wirtschaftlich sein", hielten die Kontrolleure fest - aus heutiger Sicht arg pessimistisch.

Es folgten weitere Abschreibungen über mehr als fünf Milliarden Euro. Das Eigenkapital schmolz wie Eisen im Hochofen. 2013 gaben die verkaufswilligen Essener ihr Walzwerk an Arcelor und Nippon ab. Man habe den damals bestmöglichen Preis erzielt, heißt es vom Konzern. Mit dem Verkauf des Stahlwerks in Brasilien habe Thyssenkrupp bis 2017 gewartet, um überhaupt einen positiven Preis zu erhalten. Es war das erste Jahr, in dem die Hütte einen dreistelligen Millionengewinn einfuhr.

Ex-Chef Schulz kann seine Amerika-Expansion bis heute nachvollziehen

Ekkehard Schulz referiert an seiner Kaffeetafel, warum die Amerikastrategie damals richtig gewesen sei: Alle Gutachten seien zum Ergebnis gekommen, dass man Rohstahl in Brasilien "deutlich günstiger" herstellen könne als in Europa. Auch habe es damals schon die "Initiative in Brüssel" gegeben, CO₂-Zertifikate einzuführen. Diese verteuern heute tatsächlich die Stahlherstellung hierzulande. Zudem hätten Autohersteller aus Europa für ihre Werke im Süden der USA Autobleche der gleichen Qualität gefordert wie aus hiesiger Produktion. Über Exporte aus Deutschland sei dies nicht zu garantieren gewesen, wegen des latenten Risikos von Importsteuern. In der Tat erhebt die USA seit knapp zwei Jahren höhere Zölle auf Stahl.

Und Schulz verweist auf den brasilianischen Bergbaukonzern Vale, der seine Beteiligung an dem Stahlwerk nahe Rio 2009 um weitere 17 Prozent aufstockte und dafür etwa eine Milliarde Euro zahlte - mithin anerkannt habe, dass die Hütte zu dem Zeitpunkt sechs Milliarden Euro wert war. "Vale hätte sich auch bis zu 50 Prozent an CSA beteiligt", sagt Schulz. Dies habe der Aufsichtsrat aber abgelehnt.

Von der Idee des "starken Industriekonzerns" wird bald der stärkste Teil fehlen

Zur Tragik gehört jedenfalls, dass sich das Eigenkapital von Thyssenkrupp bis heute nicht von den Abschreibungen erholt hat. Mehrere Industriegeschäfte gehören bei Weitem nicht zu den Besten ihrer Branchen, weiß man in Essen heute, sie stehen auf dem Prüfstand. Auch in der Verwaltung spart der Konzern nun und baut Stellen ab. Hinzu kommt die abflauende Konjunktur, ungünstige Rohstoffpreise, hohe Pensionsverpflichtungen. Und wer relativ hoch verschuldet ist, erntet schlechte Bewertungen von Ratingagenturen, kommt zu schlechteren Konditionen an Geld.

Und von jenem "starken Industriekonzern" wird bald der stärkste Teil fehlen, wenn Thyssenkrupp die Aufzugssparte abgibt. Sie profitiert weltweit vom Bau neuer Hochhäuser, Einkaufszentren oder Flughäfen. Bis März will der Konzern entscheiden, ob die Sparte an die Börse gehen, teilverkauft oder komplett abgegeben werden soll. "Das Interesse am Geschäft ist groß", sagte Vorstandschefin Merz zuletzt.

Mit den Einnahmen kann Thyssenkrupp dann die Verschuldung senken, Pensionsverpflichtungen decken - und in die Stahlwerke im Ruhrgebiet investieren. Denn sie gelten heute wieder als das Kerngeschäft der Essener. Es wird die nächste Kehrtwende dieses Konzerns binnen weniger Jahre, zurück zu den eisernen Wurzeln, und das ist ausgerechnet der Stahl.

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Der Konzern will die Sparte veräußern oder an die Börse bringen - und in Werken und Verwaltung sparen.

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