Süddeutsche Zeitung

Luftfahrt:Wenn Fliegen zur Geduldsprobe wird

Lesezeit: 4 min

An Europas Flughäfen herrscht Chaos. Doch auch hinter den Kulissen rumort es, in der Flugzeugproduktion geht es drunter und drüber. Und der Lufthansa-Chef sagt: "Es wird im Sommer noch schlimmer."

Von Jens Flottau, Doha

Für Carsten Spohr muss sich die Reise zur Jahresversammlung der International Air Transport Association (IATA) wie ein Ausflug in eine Parallelwelt angefühlt haben. Eine Welt, in der man einmal eben so Jennifer Lopez mitsamt Band für ein Privatkonzert einfliegen kann. In der offene Fußballstadien durch monströse Klimaanlagen so heruntergekühlt werden können, dass man sich drinnen einen Pullover anziehen muss, obwohl es auf dem Parkplatz davor immer noch 36 Grad hat. Oder auch nur: Eine Welt, in der es genügend Piloten, Flugbegleiter und Gepäckarbeiter gibt.

Zu Hause in seiner eigenen Welt sieht es derzeit für den Lufthansa-Chef anders aus. An allen Ecken und Enden fehlt Personal. Weit mehr als 1000 Flüge hat die Airline schon jetzt für den Juli gestrichen, doch schon jetzt fallen praktisch jeden Tag Dutzende aus. Am vergangenen Wochenende musste Crews 40 Lufthansa-Flüge leer durchführen, weil Flughäfen sich weigerten, mehr Passagiere oder Gepäck durchzuschleusen. "So etwas habe ich in meinen 35 Jahren bei Lufthansa noch nicht erlebt", schreibt ein Pilot. Doch in diesen Wochen sieht es fast überall in Europa so aus.

Spohr macht wenig Hoffnung auf Besserung: "Es wird im Sommer noch schlimmer", prognostiziert er. Die Nachfrage sei später als erwartet, aber dafür umso stärker zurückgekehrt. Auch die Geschäftsreisenden, von denen es lange hieß, sie würden künftig vor allem auf Videokonferenzen ausweichen, buchen wieder Flugreisen, zwar noch nicht auf dem alten Niveau, aber sie sind auch schon viel näher dran, als die Branche zu diesem Zeitpunkt geglaubt hat. Weder die derzeit enorm hohen Flugpreise noch Bedenken in Sachen CO₂-Ausstoß halten bislang Privat- und Geschäftsreisende davon ab, ins Flugzeug zu steigen - der Nachholbedarf ist offenbar enorm. Emirates Airline-Chef Tim Clark nannte es in Doha die "Bugwelle", mit der die Fluglinien noch eine geraume Zeit fertig werden müssen, bevor sich wieder ein besseres Gleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage herstellen werde.

Ausgemusterte A380-Maschinen könnten bald wieder fliegen

Die Nachfrage ist derzeit so außergewöhnlich, dass Lufthansa nun sogar wieder erwägt, einen Teil der Airbus A380-Flotte für den Sommer 2023 zu reaktivieren. Spohr hatte das bis vor kurzem kategorisch ausgeschlossen, sechs der 14 Maschinen sind schon an Airbus zurück verkauft, aber theoretisch könnten acht wieder fliegen. Eine Entscheidung soll noch im Juli fallen.

Den sichtbaren Teil des aktuellen Ausnahmezustandes, der vor allem den europäischen Luftverkehr trifft, erleben die Passagiere, wenn sie nicht außerordentlich viel Glück haben, jeden Tag. Doch es gibt einen anderen Bereich hinter den Kulissen der Branche, der mindestens ebenso chaotisch ist. Wie in vielen anderen Sektoren sind nicht funktionierende Lieferketten innerhalb von wenigen Monaten zu einem dramatischen Problem geworden.

Ein Beispiel: Flugzeugtriebwerke für Kurz- und Mittelstreckenflugzeuge von Airbus, Boeing und Embraer. Zwei Hersteller, CFM International (GE Aviation und Safran) sowie Pratt & Whitney teilen sich hier den Markt auf. Insider berichten, derzeit warteten die drei Hersteller an den diversen Endmontagelinien auf mehrere Hundert Motoren, die eigentlich schon längst geliefert hätten werden sollen. Das Ergebnis ist auf den Werksflughäfen zu sehen, egal ob in Sao Jose dos Campos (Embraer) oder Hamburg (Airbus): Überall stehen fertig montierte Flugzeuge ohne Triebwerke.

Jets stehen ungenutzt am Boden, es fehlen Ersatzteile

Aber auch das ist nur die Spitze des Eisberges: Fluggesellschaften müssen reihenweise Jets abstellen, weil es kaum Ersatztriebwerke gibt. Selbst Großkunden wie die indische Billigfluglinie Indigo, die normalerweise von ihren Lieferanten gehätschelt werden, weil sie Hunderte von Flugzeugen abnehmen und zuverlässig zahlen, warten im Moment auf Motoren.

Die Hersteller sagen, sie bemühen sich, ihren Kunden so schnell wie möglich zu helfen, aber sie selbst sind eingeschränkt durch die Engpässe ihrer eigenen Lieferanten oder von deren Lieferanten. Ein CFM-Triebwerk für einen Airbus A320neo besteht aus rund 23 000 Teilen. Aber wenn nur ein einziges Teil, eine Dichtung etwa, nicht lieferbar ist, kann es nicht fertiggestellt werden.

Ein weiteres Problem ist die Wartung. Während der Corona-Pandemie haben die Airlines einen Großteil der Flotte stillgelegt und teure Wartungsarbeiten verschoben, um Geld zu sparen. Nun fahren sie den Betrieb im Eiltempo wieder hoch. Das allein würde die Wartungsspezialisten mehr als auslasten, heißt es. Darüber hinaus aber liegen buchstäblich Berge von Flugmotoren in Hangars und warten auf einen Servicetermin.

Es fehlen mittlerweile alleine an den Endmontagelinien von Airbus, Boeing und Embraer Motoren für rund drei Monate Produktion. Airbus hat in den ersten fünf Monaten des Jahres im Durchschnitt monatlich 36 Maschinen der A320neo-Familie ausliefern können. Gemäß den eigenen Plänen, den Output bis 2025 auf 75 zu erhöhen, müsste Airbus derzeit längst bei rund 50 sein und am Jahresende bei 60. Derzeit sieht es nicht so aus, dass diese Produktionsziele noch zu halten sind. Bei Boeing sieht es auch nicht besser aus.

Triebwerke sind in der normalerweise detailliert durchgetakteten Produktionsmaschinerie der Luftfahrt derzeit das größte Problem, doch sie sind bei weitem nicht das einzige. Bei den Ausstattern der Flugzeugkabinen geht es ebenfalls drunter und drüber. Es gibt Spezialisten für Sitze, Gepäckfächer, Teppiche, Toiletten oder Küchen - und praktisch kein einziger von ihnen kann derzeit im Routinebetrieb ohne Verzögerungen arbeiten. Mal fehlt ein Bildschirm, der eigentlich in die Rückenlehne eines Sitzes eingebaut werden sollte, dann wieder ein Chip. Am Ende kann eine Charge Sitze nicht rechtzeitig geliefert werden und wieder steht ein Flugzeug für ein paar Wochen am Boden. Der Wert des Inventars, das deswegen derzeit bei den Herstellern herumsteht, geht in die Milliarden.

Probleme, die viel Geld kosten

Auch hier gilt Spohrs Prognose, dass Besserung nicht so schnell in Sicht ist. Die Flugzeughersteller hoffen, dass wenigstens die Motorenbauer bis Jahresende wieder gemäß Zeitplan liefern werden, doch den Berg an verspäteten Triebwerken müssen sie voraussichtlich noch bis weit ins Jahr 2023 hinein abtragen.

All die Komplikationen verursachen ungeahnte zusätzliche Kosten. Und das in einer Zeit, in der sich die Airlines eigentlich darum bemühen müssten, die Schulden aus der Corona-Zeit zu reduzieren. Trotz allem (und trotz hoher Treibstoffkosten) hat die IATA für das Jahr 2022 die Ergebnisprognose angehoben, vor allem der starken Nachfrage wegen: Die Airlines weltweit werden demnach noch einen Verlust von 9,7 Milliarden US-Dollar machen, etwa zwei Milliarden weniger als Ende 2021 vorhergesagt. 2021 machte die Branche noch ein Minus von 42 Milliarden, im ersten Corona-Jahr 2020 sogar 132 Milliarden. 2023 soll der Sektor laut IATA wieder schwarze Zahlen schreiben - es sei denn, die von vielen mittlerweile befürchtete Rezession wird Realität. Dann könnten die Ergebnisse wieder deutlich schlechter ausfallen.

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