Süddeutsche Zeitung

Brexit:Wieso die Rivalität mit Großbritannien der EU nützt

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Großbritannien ist ein unbequemer Partner für die EU. Doch der Block könnte von der Konkurrenz mit dem neuen Rivalen vor der Haustür sogar profitieren.

Kommentar von Björn Finke

Chaos wird wieder einmal kurz vor knapp abgewendet: Der an Heiligabend vereinbarte Handelsvertrag zwischen Großbritannien und der EU ist nur provisorisch in Kraft, weil noch die Zustimmung des Europaparlaments fehlt. Die Frist dafür läuft Ende April aus, und die Abgeordneten haben sich lange gesträubt, weil die britische Regierung Zollregeln für Nordirland nicht wie ausgemacht umsetzt. Doch am Dienstag werden die Parlamentarier das Abkommen zähneknirschend billigen, um neue Verwerfungen zu verhindern. Trotz der Handelsvertrags-Einigung unter dem Christbaum bleibt das Verhältnis zu Großbritannien also schwierig; es ist immer für ein kleines Drama gut. Das Königreich ist ein unbequemer Partner für die EU - und das wird sich so schnell nicht ändern. Diese Tatsache hat aber auch ihre gute Seiten.

Unbequem ist Großbritannien, weil die Regierung immer noch nationaler Souveränität den Vorzug gibt vor den Wünschen der Wirtschaft nach einfacheren Handelsbeziehungen. So entzündet sich der Ärger in Nordirland daran, dass Firmen bei Lieferungen von Lebensmitteln, Pflanzen oder Tieren dorthin von England, Schottland und Wales belegen müssen, dass die Ware den EU-Standards für Gesundheitsschutz entspricht. Diese Bürokratie samt Überprüfung an den Häfen ist nötig, weil die Laster danach ohne weitere Kontrollen in die Republik Irland fahren könnten - und damit in den EU-Binnenmarkt. Schließlich gibt es trotz des Brexit keine Grenzkontrollen auf der irischen Insel: Dies vereinbarten Brüssel und London, um den Friedensprozess in Nordirland nicht zu belasten.

Premier Boris Johnson könnte diese neue, konfliktträchtige Zollbürokratie zwischen Nordirland und dem Rest des Königreichs drastisch mindern. Dafür müsste seine Regierung nur garantieren, sich weiter an EU-Regeln für Lebensmittel zu halten. Doch der Brexit war ein sehr schmerzhafter Prozess für Großbritannien. Daher will Johnson die gerade gewonnene Freiheit von EU-Vorschriften nicht direkt wieder aufgeben. Ansonsten käme unweigerlich die Frage auf, wozu das ganze irrsinnige Theater am Ende gedient hat.

Ähnlich sieht es in der Geldbranche aus. Europas wichtigster Finanzplatz London hat den einfachen Zugang zum EU-Markt verloren. Die Kommission könnte den Londoner Banken aber zumindest einen etwas günstigeren Zugang bieten. Voraussetzung dafür wäre, dass die Behörde Großbritannien bescheinigt, eine vergleichbare Regulierung zu haben. Für die meisten Finanzdienstleistungen steht solch ein Beschluss jedoch weiter aus. Johnson könnte das Verfahren wohl beschleunigen, wenn er verspräche, dass sich sein Land auch künftig an EU-Regeln orientiert.

Die Briten machen einiges anders - und manches besser

Das will er allerdings nicht. Stattdessen will seine Regierung die große Freiheit kreativ nutzen, um die Wirtschaft voranzubringen. In Brüssel wird manchmal die Sorge geäußert, dass Großbritannien einen Unterbietungswettlauf starten könnte: Johnson könnte versuchen, Konzerne mit laxen Regeln anzulocken. Aber diese Furcht ist übertrieben. Britische Wähler wären nicht begeistert, wenn ihr Premier den Verbraucher- und Arbeitnehmerschutz schleifen würde. Die britische Finanzmarktregulierung ist in Teilen sogar strenger als die der EU; das Klimaziel für das kommende Jahrzehnt ist ehrgeiziger. Außerdem würde der Handelsvertrag Brüssel erlauben, auf unfaire Praktiken Londons mit Strafzöllen zu reagieren.

Großbritannien wird also nicht zum billigen Jakob. Trotzdem ist es für die EU eine Herausforderung, wenn nun ein Ex-Mitglied vor der eigenen Haustür Dinge anders macht - und ab und zu vielleicht besser. So ist die Reform der Agrarsubventionen, die Johnson seinen Bauern verordnet, radikaler und grüner als das EU-Pendant. Und im vorigen Jahr bestellte das Königreich seinen Corona-Impfstoff deutlich rascher als die EU.

Während der EU-Mitgliedschaft kämpfte Großbritannien im Zweifel für mehr Markt und weniger Staat: ein wichtiges Gegengewicht zu den interventionistischen Franzosen. Jetzt sitzen die Briten bei Entscheidungen in Brüssel nicht mehr mit am Tisch. Das ist ein herber Verlust. Doch immerhin kann Großbritannien nun von außen heilsamen Druck auf die EU ausüben - als unbequemer Rivale, der manchmal schneller, flexibler und risikobereiter agiert und weniger regulierungswütig ist. Dem trägen Koloss EU kann dieser Wettbewerb nur guttun.

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