Süddeutsche Zeitung

Amazon:Bezos' Billionen-Saga

Lesezeit: 4 min

Von Malte Conradi, San Francisco

Es gibt da ein weit verbreitetes Missverständnis über den Amazon-Gründer Jeff Bezos: Viele glauben, er habe Amazon zum größten Einzelhändler und sich selbst nebenbei zum reichsten Mann der Erde machen können, weil er ein begnadeter Visionär sei, ein großer Stratege oder weil er eine tolle Idee hatte. Natürlich ist das alles nicht falsch. Entscheidend ist aber etwas ganz anderes: Bezos ist wahrscheinlich einer der größten Geschichtenerzähler unserer Zeit. Das ist es, was Amazon zum Eine-Billion-Dollar-Unternehmen machte, dem zweiten nach Apple, das diese Marke erst vor wenigen Wochen knackte.

Während andere börsennotierte Unternehmen unter ständigem Druck und ständiger Kontrolle der Investoren leben, die Quartal für Quartal höhere Gewinne und Ausschüttungen verlangen, nimmt Amazon sich seit jeher die Freiheit, genau das zu verweigern. Zwar zwingen die Börsenregeln auch Bezos dazu, den Investoren regelmäßig Rede und Antwort zu stehen. Aber was der Amazon-Chef bei solchen Gelegenheiten verkündet, ist immer das Gleiche: Profite? Nicht so wichtig! Dividende? Niemals!

Die Aktionäre, die für gewöhnlich jeden Gewinnrückgang, jeden kleinen Fehlschlag eines Unternehmens hart bestrafen, feiern Bezos wie einen Popstar - und kaufen immer noch mehr Amazon-Aktien. Allein in den vergangenen 12 Monaten hat sich der Börsenwert des Unternehmens verdoppelt. Bezos schafft es seit 20 Jahren, die Anleger von der wohl simpelsten Erzählung zu überzeugen, die es wohl jemals in der Geschichte der Wirtschaft gegeben hat: Die vom größten Laden der Welt. Einem Laden, der einen Warenstrom von der Macht des Amazonas (englisch: Amazon) in die Welt pumpt.

Es ist der Glaube an diese Erzählung, der die Anleger so geduldig macht. Sie nehmen ausbleibende oder sehr geringe Gewinne hin, sie verzichten auf eine Dividende, alles, damit Amazon das ganze Geld investieren und immer weiter wachsen kann. (Netter Nebeneffekt: Wer kaum Profit macht, zahlt auch kaum Steuern.) Und irgendwann, so geht das Happy End dieser Erzählung, ist Amazon so groß, dass es keine Konkurrenz mehr gibt. Und dann wird verdient. Diese Hoffnung macht Amazon in den Augen vieler eine Billion Dollar wert. Und in Zukunft vielleicht noch viel mehr.

Bezos' Erzählung ist bislang eine sich selbst erfüllende Prophezeiung. Das Vertrauen der Börse stattet Amazon seit vielen Jahren mit unschlagbar günstigem Kapital aus. Bezos nutzt diese beinahe unbegrenzte Feuerkraft, um Konkurrenten zu kaufen oder um scheinbar verrückte Ideen umzusetzen. Alles fürs Wachstum. Welches andere Unternehmen kann schon Hunderte Millionen Dollar in Entwicklung, Produktion, Werbung und Vertrieb eines neuen Smartphones investieren, krachend scheitern und das Ganze als leichte Irritation abtun? So war es ja 2015 mit Amazons Fire-Phone, das nach nur einem Jahr eingestellt wurde.

Aber auch solche Dinge gehören zur großen Jeff-Bezos-Erzählung: Ausprobieren und Scheitern. Schon 1997, im ersten Brief an die Investoren, schrieb er: "Innovation und Scheitern sind untrennbare Zwillinge. Für Innovationen muss man experimentieren und es ist kein Experiment, wenn man schon vorher weiß, dass es klappen wird." Das waren keine leeren Worte. Amazon hält inzwischen Patente auf fliegende Lagerhäuser und auf Systeme, die Lieferdrohnen gegen Angriffe mit Pfeil und Bogen schützen. Mal ist die Rede von Lieferrobotern, dann von Paketen, die aus großer Höhe in den Garten des Kunden geworfen werden sollen. Mit solchen Geschichten bleibt Amazon als großer Innovator im Gespräch. Die Investoren haben noch mehr das Gefühl, Teil von etwas Aufregendem zu sein. Und wer weiß: Vielleicht wird ja doch etwas draus. Dann hat Amazon die Mittel, die Sache groß auszurollen.

Das Kalkül dahinter ist, dass derjenige der größte Einzelhändler der Welt wird, der es dem Kunden so bequem wie möglich macht. Amazon versucht das beinahe um jeden Preis. Als das Unternehmen aus Seattle vor einigen Jahren seine versprochenen Lieferzeiten verkürzte, hielten das viele für verrückt. Amazon musste neue Lagerhäuser in teuren Großstadtlagen bauen und zusätzliches Personal einstellen. Ein Milliarden-Dollar-Projekt. Und das bei einer ohnehin schon desaströsen Rechnung: 2015 gab Amazon sieben Milliarden Dollar für den Versand aus, gerade einmal zwei Milliarden davon trugen die Kunden. Wie gesagt, verrückt. Und doch ein perfektes Projekt für Amazon, das Dank der Börse über diese Milliarden verfügt, während Konkurrenten wie Walmart unmöglich nachziehen können. Natürlich bestellten daraufhin noch mehr Menschen bei Amazon und noch weniger bei der langsameren Konkurrenz. Alles fürs Wachstum.

Was Amazon nicht hat, gibt es in den Augen vieler Kunden gar nicht

Und bislang geht dieser Plan ja auch glänzend auf: Seit der ehemalige Hedgefonds-Manager Bezos 1994 eine Lagerhalle in der Nähe des Flughafens von Seattle pachtete und begann, Bücher zu verschicken, hat er einen Konkurrenten nach dem anderen ausgeschaltet. Es folgten CDs und DVDs und bald praktisch jedes kaufbare Produkt. Heute ist das Sortiment auf Amazon so groß, dass die Webseite nicht nur ein virtueller Laden ist, sondern so etwas wie ein Verzeichnis lieferbarer Produkte. Was Amazon nicht hat, gibt es in den Augen vieler Kunden gar nicht: Etwa 60 Prozent der amerikanischen Verbraucher steuern auf der Suche nach einem Produkt zuerst Amazon an - nur etwa hab so viele suchen bei Google. Das beschert Bezos und seinem Konzern einen enormen Verhandlungsvorteil bei Lieferanten - welcher Hersteller kann es sich schon leisten, nicht auf der Seite zu erscheinen?

Großen Anteil an dieser Entwicklung hatte 2002 die Einführung des Marketplace, der es anderen Händlern erlaubt, über die Amazon-Plattform Waren zu verkaufen. Amazon konnte sein Angebot dadurch noch einmal ausweiten, ohne weiteres Geld für Lagerhaltung aufbringen zu müssen. Sollte ein Produkt besonders gut laufen, kann Amazon den fremden Händler jederzeit ausschließen und das Produkt selbst anbieten.

Für stationäre Händler und für Hersteller mag dieser Aufstieg bedrohlich sein. Noch mehr Sorgen sollten sich vielleicht aber die Mitarbeiter in den eigenen Versandzentren machen. Denn während Gewerkschaften noch über schlechte Arbeitsbedingungen klagen, tut Amazon alles, um menschliche Mitarbeiter dort fast ganz überflüssig zu machen und durch Roboter zu ersetzen. Ein Billionen-Dollar-Unternehmen entledigt sich seiner Mitarbeiter. Alles fürs Wachstum.

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