Süddeutsche Zeitung

Krise in der Premier League:Liverpool leergepumpt

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Die Mannschaft von Jürgen Klopp findet immer seltener den Weg zum Tor und stürzt weiter ab - weil sie sich nicht mehr auf ihren "besten Spielmacher" stützen kann.

Von Sven Haist, London

Das Bemühen war dem FC Liverpool nicht abzusprechen. Die Spieler versuchten, die Anforderungen an den FC Chelsea zu erhöhen, so wie sie das stets handhaben, wenn sie in Rückstand geraten. Üblicherweise dreht Liverpool dann so lange das Tempo auf, bis der Gegner der immer größeren Schlagzahl nicht mehr standhalten kann. Aber diesmal verloren sich die Angriffe - als hätte Liverpool das eigene Spiel aufpumpen wollen, obwohl durch ein Loch alles gleich wieder entwich.

Liverpool kämpft in diesen Tagen mit dem Ausfall eines Impulses, den Trainer Jürgen Klopp als "seinen besten Spielmacher" bezeichnet: dem unwiderstehlichen Pressing. Der Erfolg dieses hochsensiblen Mechanismus, bei dem jeder Laufweg mit dem der Mitspieler ineinander greifen muss, ist aufgrund der erzwungenen personellen Umstellungen weitgehend zum Erliegen gekommen. Er wiegt sogar schwerer als die seit Monaten andauernde Verletzungsmisere, die neben der Abwehr auch das Mittelfeld stark in Mitleidenschaft gezogen hat.

Ohne beim frühen zackigen Stören des gegnerischen Spielaufbaus an den Ball zu kommen, fehlt dem Meister offensichtlich das entscheidende Mittel, um sich Torchancen zu erspielen. Nur einen Schuss aufs Tor brachte Klopps Elf beim 0:1 gegen Chelsea zustande, einen harmlosen Kopfball in der 85. Minute. Seit mehr als zehn Stunden - 618 Minuten, um exakt zu sein - wartet Liverpool auf einen Heimtreffer aus dem Spiel heraus.

"Weiter denn je", fand das Liverpool Echo, lokales Sprachrohr des Klubs, sei das Team entfernt gewesen, einen Treffer zu erzielen. Das in Liverpool verpönte Massenblatt Sun urteilte gewohnt scharf: "Der Kick ist verschwunden, die Intention, der Schwung, das Knistern. Für Liverpool war es eine krasse Erinnerung, wie tief sie gefallen sind." Die Leistung habe nichts "mit dem früheren Liverpool" zu tun gehabt, bilanzierte die Times: "Der Meister hat neben dem Glauben auch den Titel verloren."

Klopp antwortet knapp, Robertson setzt einen Notruf ab

In der Tabelle liegt Liverpool nach dem 0:1 gegen Chelsea mittlerweile 22 Punkte hinter Spitzenreiter Manchester City zurück. An Weihnachten hatte das Team von Klopp komfortabel vorne gestanden. Noch demoralisierender dürfte nur der Umstand sein, nach 68 (!) ungeschlagenen Partien an der Anfield Road nun fünf Heimspiele nacheinander verloren zu haben (0:1/Burnley; 0:1/Brighton; 1:4/Manchester City; 0:2/Everton; 0:1/Chelsea), erstmals in der 128 Jahre langen Vereinshistorie.

Ein "massiver Schlag" sei das, sagte Klopp - seine Betroffenheit ließ sich schon daran erkennen, dass er sich in seinen Ausführungen denkbar kurz fasste. Mehr zu sagen hatte Linksverteidiger Andrew Robertson, der einen Appell an die Kollegen richtete: "Wir können uns nicht auf die Vergangenheit verlassen. Die letzte Saison ist vorbei, sie ist erledigt." Es klang fast wie ein abgesetzter Notruf, als er nachschob: "Wir fallen immer weiter zurück!"

Nach nur zehn Punkten aus elf Ligaspielen in diesem Kalenderjahr ist Liverpool im Klassement auf Rang sieben durchgereicht worden, ein weiteres Absinken droht durch die Nachholspiele der Konkurrenz. Das einzige Saisonziel in der Premier League ist die Qualifikation für die Champions League, dafür muss Liverpool mindestens Vierter werden oder den Europapokal gewinnen (im Achtelfinal-Hinspiel siegte Liverpool 2:0 gegen RB Leipzig).

Als wäre die Lage für Klopp nicht diffizil genug, bringt ihn jetzt sein deutscher Trainerkollege Thomas Tuchel zusätzlich in Bedrängnis. Der neue Chelsea-Trainer rüttelt mit fünf Siegen und drei Remis aus acht Ligaspielen am bisherigen Ausnahmestatus seines Landsmanns in England. In der Tabelle ist Tuchel mit Chelsea kürzlich an Klopps Liverpool vorbeigezogen, liegt nach dem Sieg im direkten Duell vier Punkte davor. Zudem entblößte Tuchel den Spielstil seines Kontrahenten, dem er in der Bundesliga einst bei Mainz 05 und Borussia Dortmund nachfolgte.

Tuchel erobert erstmals Anfield

Mit einer fast provokant nah am eigenen Tor praktizierten Spieleröffnung lockte Chelsea die Gegenspieler an - und Liverpool ließ sich ködern. Um die sieben am Aufbau beteiligten Spieler in Zugzwang zu versetzen, musste Klopp nicht nur den Angriff und Teile des Mittelfelds nach vorne beordern, sondern auch die beiden Außenverteidiger. Die aufgerückte Formation nutzte Tuchel, indem er seine Spieler anwies, den Ball hoch hinter Liverpools Abwehr zu schlagen, um die Fähigkeiten der wendigen Stürmer Timo Werner, Hakim Ziyech und Mason Mount auszuspielen. Vorwiegend gingen die Angriffe über links, weil Liverpool meist selbst über rechts attackierte.

Die Strategie rundete Chelseas tiefes Verteidigen ab, sieben der zehn Feldspieler hielten sich im Schnitt öfter in der eigenen Hälfte auf als in der gegnerischen - bei Liverpool war es genau umgekehrt. So war es kein Zufall, dass ein Ballverlust zu Chelseas entscheidendem Kontertor durch Mason Mount (42.) führte. Liverpools Rechtsverteidiger Trent Alexander-Arnold rückte zu weit auf, bevor die Abstimmung zwischen ihm und dem in der Innenverteidigung aushelfenden Fabinho nicht passte.

"Wir haben dem Team mitgeteilt, dass wir eine perfekte Leistung benötigen, aber nichts super extra Spezielles", sagte Tuchel. Man dürfe sich nicht den Kopf zerbrechen, weil man gegen Liverpool sowieso "keine Sekunde" zum Nachdenken auf dem Platz habe. Nach zwei Pleiten mit Dortmund und Paris Saint-Germain im Europapokal schaffte Tuchel im 15. Schlagabtausch mit Klopp (drei Siege, drei Remis, neun Niederlagen) seinen Premierenerfolg in Anfield.

Tuchels erster Kniff in London als Nachfolger der entlassenen Klub-Ikone Frank Lampard war es gewesen, die Mannschaft mit einer Dreierabwehrkette und zwei defensiven Mittelfeldspielern zu stabilisieren. Diese taktische Ausrichtung lehrte einst Meistertrainer Antonio Conte zwischen 2016 und 2018 den Chelsea-Spielern bis ins letzte Detail. In zehn Pflichtspielen gab es für Tuchels Team so nur zwei Gegentreffer - einer davon war ein Eigentor.

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