Süddeutsche Zeitung

Sporthistorie:Michael Ballack, der Unvollendete

Lesezeit: 4 Min.

Vor 20 Jahren grätscht Michael Ballack in Unterhaching folgenschwer dazwischen. Bayer Leverkusen wird deswegen nicht Meister - das Eigentor verfolgt den Fußballer seine ganze Karriere lang.

Von Josef Kelnberger

Es war das letzte Spiel der Saison. Ein sonniger Frühlingstag, der 20. Mai 2000, die 20. Spielminute im Sportpark Unterhaching. Über dem Stadion schwebten noch einige der roten und blauen Luftballons, die man zum Spielbeginn hatte steigen lassen zur Feier des Tages: eine Meisterschaftsentscheidung in Unterhaching, ausgerechnet hier, in der Fußballprovinz!

Danny Schwarz, Mittelfeldspieler der SpVgg Unterhaching, trat den Ball in jener schicksalhaften Minute von rechts in den Strafraum, genau in den Lauf seines Stürmers Altin Rraklli. Eine schöne Flanke mit Drall weg vom Tor, aber eigentlich aussichtslos. Denn dazwischen ging Adam Matysek. Der Torhüter von Bayer Leverkusen lief aus dem Tor. Ein Kinderspiel scheinbar, die Parade.

Danny Schwarz. Altin Rraklli. Adam Matysek. Flüchtige Namen der Bundesligageschichte. Was wohl passiert wäre, wenn man die Drei hätte gewähren lassen? Die vorhersehbare Flanke von Schwarz, der vergebliche Spurt von Rraklli, die routinierte Parade von Matysek. Vielleicht wäre alldem ein schneller Abwurf erfolgt, ein verheißungsvoller Konter von Bayer Leverkusen, das 1:0 für die Gäste.

Bayer Leverkusen hätte wohl den ersten Bundesligatitel seiner Geschichte gewonnen, wäre "Milleniums"-Meister geworden, wie die Leverkusener Fans auf Pappe geschrieben hatten. Trainer Christoph Daum wäre vergöttert worden als Mann, der den FC Bayern in die Schranken weist. Und Michael Ballack?

Endstand 2:0 für Unterhaching

Er wäre vielleicht ein anderer Fußballspieler geworden, wenn er in jener 20. Spielminute nicht dazwischengegrätscht wäre. Aus Nervosität, aus Übereifer - vielleicht auch in einem Anflug von Panik, weil er fürchtete, seinen Einsatz zu verpassen in diesem Spiel der Spiele.

So grätschte er hinein in diese Flanke und schlug den Ball ins eigene Tor. Altin Rraklli nahm später für sich in Anspruch, er habe Ballack "unter Druck gesetzt" und Ballack habe gar nicht anders gekonnt, als dieses Eigentor zu schießen. Doch ein abgeklärter Spieler hätte gespürt, dass sein Torwart die Lage unter Kontrolle hatte.

Schwarz und Rraklli jubelten, als der Ball im Tor lag, Torhüter Matysek stand versteinert. Und Ballack barg sein Gesicht in beiden Händen, untröstlich. Er ahnte wohl, dass er und sein Team sich nicht mehr erholen würden von diesem Schock.

Als das Trauerspiel vorüber war, Endstand 2:0 für Unterhaching, saß Michael Ballack heulend auf der Ersatzbank in Unterhaching, während einige Kilometer weiter nördlich im Oympiastadion der Bayern-Kapitän Stefan Effenberg die Meisterschale stemmte. Die Unterhachinger jubelten, als wären sie selbst Meister geworden. In der folgenden Saison stiegen sie ab und kehrten niemals wieder.

Michael Ballack, erst 23 Jahre alt damals und zwei Jahre zuvor schon Meister mit dem 1. FC Kaiserslautern, hat trotz der Niederlage in Unterhaching eine große Karriere gemacht. Doch dieser 20. Mai 2000, diese Niederlage gegen Stefan Effenbergs FC Bayern, hat ihn sein ganzes Fußballerleben lang verfolgt. Das Trauma des Scheiterns als Anführer im entscheidenden Moment festigte sich zwei Jahre später, als Ballack mit Bayer binnen weniger Tage die Meisterschaft als Zweiter beendete, das Pokalfinale verlor und auch das Champions-League-Endspiel gegen Real Madrid.

Drei Mal Deutscher Meister und drei Mal Pokalsieger wurde er dann nicht gegen die Bayern, sondern mit den Bayern. In München löste er Stefan Effenberg im Jahr 2002 als Führungsspieler ab - und kam doch wieder nicht an ihn heran. Denn der Champions-League-Titel, den Effenberg als Kapitän 2001 gewonnen hatte, blieb Ballack verwehrt, beim FC Bayern und auch bei FC Chelsea.

Unvergessen die Finalniederlage im Elfmeterschießen gegen Manchester United 2008. Michael Ballack sank, als alles vorbei war, wie vom Blitz getroffen zu Boden. Und wieder weinte er.

Auch mit der Nationalmannschaft sollte er keinen Titel gewinnen. WM-Zweiter 2002, WM-Dritter 2006, EM-Zweiter 2008. Er ist in den drei Turnieren seiner Mannschaft stets voranmarschiert: ein unwiderstehlicher, immens torgefährlicher Mittelfeldspieler. Und dennoch verfolgte ihn der Vorwurf, in entscheidenden Momenten als Führungsspieler zu versagen, gipfelnd in dem unendlich dummen Satz von Günter Netzer: Einer wie Ballack, der in der ehemaligen DDR aufgewachsen sei, sei wohl immer noch geprägt vom Sozialismus und deshalb nicht geeignet als Führungsspieler, als Leitwolf, den man im deutschen Fußball lange Zeit kultisch verehrte.

Der Obermacho fällt irgendwann aus der Zeit

Je härter die Kritik ihn traf, umso verbissener schien sich der Sachse Michael Ballack, der erste ostdeutsche Kapitän der Nationalelf, in die Leitwolf-Debatte hineinzusteigern. Der Fußball-Leitwolf reckt Kinn und Brust. Er fährt im Training die Stollen auch gegen Teamkollegen aus, im Spiel stürmt, grätscht, pöbelt er seinen Leuten voraus. Und wenn nichts mehr geht, legt er sich den Ball zum Freistoß zurecht. Er läuft an, haut drauf, dass die Funken sprühen. Wie eine Rakete geht sein Schuss ab, und der Leitwolf schickt dem Ball einen Blick hinterher, der von teuflischer Entschlossenheit kündet.

Kraft seines Willens, so sieht es aus, lenkt er die Kugel in den Torwinkel. Einschlag, 1:0 Siegtor, orgiastischer Jubel. Genau so sah Michael Ballacks letzter ganz großer Führungsspielermoment im deutschen Fußball aus, bei der EM 2008. Aber ach, es war die Vorrunde, das Siegtor gegen Österreich. Im Endspiel ging Leitwolf Ballack mit dem Rest des Rudels beim 0:1 gegen Spanien unter.

Nach jenem Finale beschimpfte Michael Ballack den Teammanager Oliver Bierhoff, der ihn af eine Ehrenrunde schicken wollte, als "Obertucke". Es war das Zeichen, dass Obermacho Ballack aus der Zeit fiel, dass der Wind sich drehte im deutschen Fußball. Man begann, nicht mehr Leitwölfe zu suchen, sondern intelligente und sozialverträgliche Spieler, die sich in ein Spielsystem einfügten.

Michael Ballack nahm diesen Trend nicht ernst, hielt ihn für, nun ja: obertuckenhaft. Und musste wegen einer Verletzung aus der Ferne erleben, wie sich der schöne neue deutsche Fußball bei der WM 2010 in Südafrika durchsetzte - und wie er plötzlich als Spieler galt, der diesem schönen Fußball im Weg stand. Einen Titel hat die Nationalmannschaft nach der Ära der Leitwölfe dann tatsächlich bald gewonnen, bei der WM 2014. Zudem machten im Mai 2013 der FC Bayern und Borussia Dortmund den Champions-League-Sieger unter sich aus. Das zeigt: Dem deutschen Fußball ging es danach gut, auch ohne dieses Chefgehabe.

Aus dem Nationalteam ist Michael Ballack im Unfrieden mit Joachim Löw geschieden; er fühlte sich gemobbt. Zurückgekehrt in die Bundesliga, lag er bei Bayer Leverkusen zumeist im Streit mit seinen Trainern Jupp Heynckes und Robin Dutt. Er wurde 2011 noch einmal Liga-Zweiter mit Bayer, ehe er im Jahr darauf seine Karriere beendete.

Michael Ballack, der große Unvollendete, der große Unverstandene.

Er interessiert sich jetzt für zeitgenössische Kunst, sammelt Gemälde und Skulpturen. Wenn er Interviews gibt, spricht aus ihnen ein Hauch von Verbitterung, dass ihm der ganz große Wurf versagt blieb. "Titel werden manchmal überschätzt", sagt er. Hoffentlich glaubt er auch daran.

Dieser Text ist erschienen im Buch "15:30 - Die Bundesliga. Das Buch" aus der Süddeutschen Zeitung Edition. Mehr Informationen dazu gibt es hier: szshop.sueddeutsche.de/Buecher/Sport/15-30-Die-Bundesliga-Das-Buch.html

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