Süddeutsche Zeitung

Ferrari in der Formel 1:Niesen und Schnäuzen in Maranello

Lesezeit: 4 min

Ferraris Reifen-Debakel auf dem Hungaroring zeigt im Kleinen, woran es dem Team im Großen fehlt: Übersicht, Aufmerksamkeit, Absprachen. In sieben der vergangenen acht Rennen hat sich die Scuderia um den WM-Titel gebracht.

Von Philipp Schneider; , Budapest

Der freundliche Italiener, der am frühen Abend auf dem Bildschirm erschien, um über La prossima grande catastrofe zu referieren, wirkte verändert. Nur was genau war anders? Mattia Binotto trug wie immer den roten Overall der Scuderia Ferrari, dazu die Brille mit den großen, runden Gläsern, die seine Augen noch größer und gutmütiger erscheinen lassen, er klang auch wie immer: Sanft glitt seine Stimmlage vom Berg ins Tal.

Wie seine Rennwagen in dieser Saison. Binotto, dieser Rhetorik-Maestro, hat die Gabe, den zähneknirschenden Ferraristi in vielen bunten Worten darzulegen, dass sein Team nichts falsch gemacht hatte, obwohl ja die Fernsehkameras wieder einmal live und in Farbe dokumentiert hatten, was alles falsch gelaufen war.

Was also war anders? Nichts direkt Hörbares, schon gar nichts Sichtbares. Neu war die Strategie hinter der Legende, die er nun auftischte: Diesmal lenkte Binotto von einem Fehler ab, indem er sagte: Unser Auto war ganz plötzlich so schlecht, so dass es gar keine Rolle spielt, dass wir unserem Weltmeisterschafskandidaten Charles Leclerc zum falschen Zeitpunkt die falschen Reifen angeschnallt haben. Ist doch ganz logisch! Welche Rolle spielen Fehler, wenn das ganze Fahrzeug ein einziger Fehler ist? Der Teamchef sprach: "Wir hatten zum ersten Mal in dieser Saison kein Siegerauto. Wir waren zu langsam und wären mit keiner Strategie erfolgreich gewesen."

Es ist diese Legende, mit der Mattia Binotto, vor 52 Jahren geboren in Lausanne, nun sein Team in die Sommerpause der Formel 1 verabschiedet. Drei Wochen durchatmen sollen seine Leute in der bereits 14. Saison seit dem letzten Weltmeistertitel der Scuderia 2008, an deren Ende mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit wieder kein Pokal nach Maranello wandern wird. Genug Zeit hoffentlich, um aufzuarbeiten, was schlimmer war: Auto oder Strategiefehler.

Verstappen führt komfortabel - auf ihn wartet eine Butterfahrt zum Titel

Es gibt kaum noch Hoffnung für die Italiener, nachdem Max Verstappen am Sonntag in Ungarn mit seinem Red Bull vom zehnten Startplatz aus ganz nach vorne gestürmt ist. Trotz eines Drehers um 360 Grad, trotz Problemen mit der Kupplung. Und das, obwohl die roten Autos auch im 13. Rennen der Saison noch am Freitag die mit Abstand schnellsten waren. Auf dem verwinkelten Hungaroring zudem, dessen Kurs mit vielen langsamen Kurven Leclerc und Carlos Sainz entgegenkommt.

80 Punkte beträgt Leclercs Rückstand auf Verstappen, neun Grand Prix verbleiben. In 72 Jahren Formel 1 hat kein Pilot jemals einen solchen Rückstand aufgeholt. Selbst wenn Verstappen von nun an lediglich konsequent Zweiter würde und Leclerc alles gewänne, würde das nichts ändern. Nachdem er im Vorjahr im Titelkampf mit Lewis Hamilton einen Thriller bis zur letzten Runde im letzten Rennen ertragen musste, wartet auf den Niederländer diesmal eine Butterfahrt zum Titel.

Und wenn es auf dieser Tour ganz lustig werden soll, dann erlebt Verstappen noch ein launiges Rahmenprogramm, in dem die wiedererstarkte Mercedes-Truppe die Scuderia noch abfängt und Zweiter wird in der Konstrukteurswertung. Die Silberpfeile liegen nur noch 30 Punkte hinter Ferrari.

Die Lufttemperatur an der Strecke war während der drei Renntage regelrecht abgestürzt. Heiß und stickig war es am Freitag, kühl und regnerisch am Samstag, noch kühler - 14 Grad Celsius - während des Rennens am Sonntag. Dazu sehr windig. Wie wilde Kettenhunde zerrten die an der Start- und Zielgerade postierten Flaggen an ihren Masten. Das wechselhafte Wetter ist oft ein Thema am Hungaroring.

Die Renningenieure hassen solch schwankende Bedingungen, weil sie die Autos vor dem Rennen nicht unter späteren Rennbedingungen testen können. Aber dafür, dass die härteste Reifenmischung, die Leclerc mindestens das Podium und wohl auch den Sieg kostete, auf dem Hungaroring nicht funktionieren würde, hatte es vor dem fatalen Boxenstopp Leclercs viele Warnungen gegeben. Mehr Warnungen, als es Warnungen in der Offenbarung des Johannes gibt.

Etwas überspitzt lässt sich sagen: Dass es kälter wurde, haben viele bemerkt und sich einen Pullover übergezogen. Alle bis auf Ferrari. Und jetzt wird geniest und geschnäuzt in Maranello.

Mercedes hatte schon am warmen Freitag die harten Reifen nicht auf Temperatur bekommen und daraus den Schluss gezogen, sie im Rennen nicht anzufassen. Red Bull hatte eigentlich vor, im Rennen am Sonntag mit ihnen zu beginnen - verwarf den Plan aber, weil sich diese auf der Einführungsrunde komisch anfühlten. "Wir haben gedacht: Das machen wir nicht! Wir fahren auf dem Soft!", berichtete Verstappen hinterher blendend gelaunt.

Und es gab eine letzte Warnung, die Binotto und seine Strategen übersahen: Die Alpines von Fernando Alonso und Esteban Ocon wechselten ein paar Runden vor Leclerc auf die weißen Gummis, also die harten Reifen - und ihre Rundenzeiten brachen dramatisch ein. Ob sie bei Ferrari ihr eigenes Rennen nicht verfolgen würden, fragte gar der ehemalige Weltmeister Jacques Villeneuve in einer Kolumne: "Es ist unverständlich, dass so etwas in einem Sport passiert, in dem nur die Besten der Besten arbeiten."

Bilanz des Grauens der Scuderia: vom Strategiefehler bis zu qualmenden Motoren

Nun ist es müßig, sich im Klein-Klein eines Rennens zu verlieren. Der Blick lohnt aber, weil die konkrete Fehlentscheidung der Scuderia in Ungarn im Kleinen zeigt, woran es dem Team im Großen fehlt. An Übersicht, Aufmerksamkeit, Absprache und dem Mut zur richtigen Entscheidung. Auch an einer gewissen Gewitztheit. Anders als Mercedes und Red Bull zogen sie ihrem Spitzenfahrer Leclerc die harten Reifen auf, obwohl dieser dafür plädierte, länger auf seinen mittelharten zu rollen und dann später nur noch die ganz weichen Gummis überzuziehen.

"Die harten Dinger waren der Killer", klagte Leclerc später, sein Blick war leer, seine Stimme leise. Verstappen überholte Leclerc zweimal (weil er nach einem Fahrfehler noch einmal zurückfiel). Am Ende kosteten sie ihn einen weiteren Boxenbesuch, der ihn 20 Sekunden aufhielt, plus sechs Sekunden auf der Strecke. Man weiß das, weil Leclerc diese 26 Sekunden selbst ausrechnete. Um die Blamage, die nicht er verschuldet hatte, besser zu verarbeiten. 16 Sekunden hinter Verstappen rollte er als Sechster ins Ziel.

Noch flugs nachgereicht die Bilanz des Grauens für die Scuderia: In den vergangenen acht Rennen stand Leclerc nur einmal auf dem Podium, beim Sieg in Spielberg. In jedem der anderen hat sich Ferrari selbst in den Gasfuß geschossen: In Barcelona versagte Leclercs Antriebseinheit, in Monaco wählten die Strategen die falsche Strategie, in Baku qualmten die Motoren, in Kanada startete er wegen eines Motorenwechsels von ganz hinten, in Silverstone bevorzugten die Strategen seinen Teamkollegen, in Le Castellet rammte er sein Auto in die Bande. Und nun das Drama auf den falschen Reifen.

"Wir müssen als Team besser werden und verstehen, was wir falsch gemacht haben", fordert Leclerc. Auch Binotto sagt: "Wir müssen aus diesem Rennen die richtigen Lehren ziehen."

In Italien, im emotionalen Umfeld von Ferrari, fragen sich immer mehr Beobachter: Wann zieht jemand anders die richtige Lehre für den freundlichen Mattia Binotto?

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