Süddeutsche Zeitung

Leipzig gewinnt den DFB-Pokal:Freude, Trauer und ein Lichtermeer

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Rasenballsport Leipzig holt im dritten Anlauf seinen ersten Titel im deutschen Profifußball - in einem Spiel, aus dem auch der SC Freiburg als Sieger hätte hervorgehen können. Am Ende entscheiden Kleinigkeiten.

Von Felix Haselsteiner, Berlin

Dann erhellte ein Meer aus Handylampen das Olympiastadion - und die Ereignisse des Abends rückten auf einmal in weite Ferne. Das auf beiden Seiten von Anspannung geprägte Hin und Her der regulären 90 Minuten; die hitzige Debatte um gerechte und ungerechte Schiedsrichterpfiffe, Ermedin Demirovics Fehlschuss an die Latte im Elfmeterschießen, der den Abend fußballerisch besiegelte. All das spielte keine Rolle mehr, als etwa 20 Minuten nach Spielende ein Krankenwagen in das Olympiastadion fuhr und hinter einem braunen Sichtschutz ein Zuschauer wiederbelebt werden musste. Das Stadion, in der Mitte geteilt in zwei Fanlager, deren Gefühle gerade nicht unterschiedlicher sein könnten, vereinte sich in einer betretenen, abwartenden Stille - und schließlich einem Lichtermeer, in dem die Hoffnung ruhte, dass dieser Abend ein gutes Ende nehmen würde.

Als der Stadionsprecher einige Minuten später die erhoffte Nachricht verkündete, der Patient sei stabil und könne im Krankenhaus weiter behandelt werden, hallte erleichterter Jubel von den Rängen wieder. Es erklang Applaus für die notärztlichen Ersthelfer, der Krankenwagen fuhr rückwärts aus dem Stadion. Und dann kehrten langsam die Gefühle zurück, die bei den 75 000 Zuschauern eigentlich nachhallten nach diesen 120 Minuten DFB-Pokalfinale: Die Trauer der Freiburger auf der einen, die Freude der Leipziger auf der anderen Seite.

Inmitten dieser Gefühlslage regnete dann goldenes Lametta auf den Rasen des Olympiastadions. Rasenballsport Leipzig kennt diesen Regen, aus wenigen Metern Distanz zumindest. Zweimal hat RB bereits das Pokalfinale verloren, zweimal sind die Spieler durch die Spalier des Siegers gegangen, die sie diesmal selber bildeten. 2019 gegen Bayern und 2021 gegen Borussia Dortmund war die Mannschaft jeweils klar unterlegen gewesen. Seit diesem Samstagabend aber ist Leipzig nun offiziell angekommen im Kreis der bedeutenden deutschen Fußballstandorte. Die Titellosigkeit hatte das bislang noch verhindert, nun darf sich Leipzig Pokalsieger 2022 nennen. "Der erste Titel für mich, für die Mannschaft, für den Verein", sagte Trainer Domenico Tedesco nachher, er sei "überglücklich". Dann regnete es Bier auf der Pressekonferenz, die Spieler überraschten den Trainer.

Zu diesem Zeitpunkt hatten auch die letzten der tapferen Freiburger bereits den Heimweg angetreten. Eine eindrucksvolle Szenerie hatte sich nach Spielende in der Ostkurve des Olympiastadions abgespielt, wo die Breisgauer sich zusammengefunden hatten. Manchmal waren sie so laut, dass man glauben konnte, es wäre die gesamte Region nach Berlin gereist. Der Niederlage liegt manchmal der größere Zauber inne als dem Sieg, am Samstagabend war das der Fall. Die Freiburger Anhänger sahen sich bereits wenige Minuten nach dem letzten Elfmeter dazu berufen, ihrer Mannschaft den würdigsten aller Rahmen inmitten einer verpassten, wohl historischen Chance zu liefern. Minutenlang besangen sie ihre Spieler, die vor der Kurve Tränen vergossen. Dann schritt auch Christian Streich langsam in Richtung der Anhänger. Er schien etwas zu brauchen, um die Größe des Augenblicks zu begreifen, als der Gesang durch das Olympiastadion hallte, er sei "der beste Mann". Dann bedankte er sich dafür, indem er sich verbeugte, Küsse in die Kurve schickte und seine Spieler nacheinander in den Arm nahm.

Streich ist eine einzigartige Figur im deutschen Fußball, dementsprechend wählte er im Nachgang seine Worte. "Vor jedem Bundesligaspiel bin ich doppelt so nervös wie heute", sagte Streich. Da nämlich ginge es darum, dafür zu sorgen, dass der SC Freiburg Jahr für Jahr in der Bundesliga bleibt. Das Pokalfinale sei die Draufgabe gewesen, genauso wie die Reisen nach Europa in der kommenden Saison.

Der SC Freiburg hatte jedenfalls 120 Minuten lang kaum etwas falsch gemacht. Die ersten 75 Minuten dieses Pokalfinals waren spielerisch nicht wertvoll, der Sportclub darf das allerdings durchaus als Kompliment verstehen. Freiburg war nicht nach Berlin gekommen, um irgendjemand an die Wand zu spielen, sondern um mit Leidenschaft und Hingabe um jeden Ball zu kämpfen - und im Zweifelsfall den Ball hoch und weit zu klären. Genau das taten sie und verhinderten damit jegliche kreative Energie der spielerisch eigentlich besseren Leipziger. Weil Maximilian Eggestein in der 20. Minute dann nach einem diskutablen, aber letztendlich regelkonformem, weil unabsichtlichem Handspiel mit einem Distanzschuss zum 1:0 traf, schien es lange so, als würde der Freiburger Plan aufgehen.

In der 57. Minute sah dann auch noch Leipzigs Rechtsverteidiger Marcel Halstenberg nach einer Notbremse die rote Karte. Nun kontrollierte der SC Freiburg die Partie fast schon nach Belieben, hatte mehr Ballbesitz und kam zu besseren Gelegenheiten. Leipzig schien geschlagen, schon wieder. Dann trabte Mittelfeldspieler Konrad Laimer in der 75. Minute während eines Freistoßes seiner eigenen Mannschaft zur Seitenlinie, um etwas zu trinken und als er auf seine angestammte Position im Mittelfeld zurückkehren wollte, sprang ihm der abgeprallte Ball vor die Füße. Laimer schlug eine lange Flanke in den Strafraum, die Kapitän Willy Orban verlängerte und Christopher Nkunku zum 1:1 verwertete.

Es war die Wiederauferstehung einer Mannschaft, die sich selbst schon fast aufgegeben hatte. "Es wäre nicht ehrlich, wenn ich sagen würde, dass ich dachte, jetzt drehen wir das Spiel", sagte Torwart Peter Gulasci über die Phase vor dem 1:1. Und Streich sah bei seiner Mannschaft parallel dazu "ein ganz kleines bisschen" von dem Selbstvertrauen schwinden, das sie sich aufgebaut hatte, weshalb das Spiel ausgeglichen war.

Beide Mannschaften hätten sich den Pokalsieg verdient gehabt, was allein schon die Lotterie des Elfmeterschießens ausreichend darlegt. Leipzig haderte zudem ein ums andere Mal mit einer beachtenswerten Zahl an knappen Schiedsrichterentscheidungen gegen sich: Sascha Stegemann leitete mit gewohnter Akribie und entschied zwar bei strittigen Szenen wie dem Handspiel vor der Freiburger Führung und einem nicht gegeben Elfmeter für Leipzig in der 116. Minute regelkonform - aber eben dennoch meistens gegen RB. "Es sind Sachen passiert, die mich auf 180 gebracht haben", sagte Tedesco später.

Direkt nach dem Spiel war er wegen einer Provokation mit der Freiburger Bank aneinandergeraten und hatte erstmal nicht an den Feierlichkeiten teilgenommen, sondern seinem Ärger Luft gemacht. Ein Mitglied aus dem Stab der Freiburger habe sich bei der roten Karte gegen Marcel Halstenberg "nicht ganz sauber" verhalten, sagte Tedesco: "Man kann sich freuen über eine rote Karte, aber dann den puren Hass mir gegenüber zu zeigen, da habe ich meine Probleme." Nach dem Spiel sei er auf der Suche nach seinem Trainerkollegen Christian Streich gewesen. "Und dann kam genau diese Person auf mich zu und meinte, ich soll mich doch bitte verpieseln und feiern gehen", sagte Tedesco. Er habe mit einem "Dankeschön" geantwortet, dazu warf er ihm als Retourkutsche eine Kusshand entgegen. "Daraufhin ist dann die Bank explodiert. Da muss ich sagen, dass das einfach schade ist", meinte Tedesco. Inzwischen sei die Situation aber geklärt, informierte er, er habe mit Streich darüber gesprochen.

Freiburg hätte den Pokal jedenfalls genauso verdient, weil es in der Verlängerung die bessere Mannschaft war. Dreimal verhinderten Pfosten und Latte eine erneute Freiburger Führung im Spiel, dann folgte dasselbe Drama im Elfmeterschießen: Erst schoss Christian Günter deutlich über das Tor, dann scheiterte Ermedin Demirovic an der Unterkante der Latte. "Dem Demi sein Schuss", sagte Streich, "ist eigentlich symptomatisch". Denkbar knapp und daher umso herzzerreißender ist der SC Freiburg daran gescheitert, RB Leipzig auf dem Weg zum ersten Titel der Vereinsgeschichte aufzuhalten. Letztendlich waren es wenige Zentimeter. "So ist Fußball", sagte Christian Streich.

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