Süddeutsche Zeitung

Champions League:Das Pep-Guardiola-Spiel

Lesezeit: 4 min

Von Christof Kneer

Wahrscheinlich wird Manel Estiarte seinem Trainer am Morgen dieses Halbfinales keinen Pressespiegel vorlegen. Am Morgen eines Spiels hat Pep Guardiola keinen Sinn für Schlagzeilen, er hat anderes zu tun. Am Morgen eines Spiels muss Guardiola immer so wahnsinnig dringend überlegen, ob der Plan, den er am Vortag geboren hat, ihn wirklich noch überzeugt. Ob es wirklich richtig ist, Thomas Müller draußen zu lassen, ob es wirklich Sinn ergibt, Juan Bernat spielen zu lassen? So etwas treibt Guardiola am Spieltag um und um und nochmals um, denn noch hat er ja Zeit, den tausendsten Plan durch einen tausendundersten zu ersetzen. An den Schlagzeilen dagegen kann er sowieso nichts mehr ändern. Meistens kennt er am Morgen eines Spiels sogar schon die Schlagzeilen vom nächsten Tag.

Pep Guardiola ahnt natürlich schon, wie die Zeilen lauten werden, wenn der FC Bayern im Halbfinale der Champions League gegen Atlético Madrid ausscheiden sollte. Irgendwo unter einer mehr oder weniger erregenden Überschrift wird eine Unterzeile stehen, und in dieser Unterzeile wird mit hoher Wahrscheinlichkeit das schöne deutsche Wort "vercoacht" vorkommen.

Es sollte sich keiner täuschen lassen: Guardiola kriegt alles mit

"Ich bin noch nicht tot, my friends", hat Pep Guardiola vorigen Freitag trotzig gerufen, als ihn in der Pressekonferenz vor der Bundesliga-Partie gegen Mönchengladbach wieder jemand nach der Aufstellung vom Atlético-Hinspiel fragte. "Nach diesem Spiel everybody killed me, aber ich bin noch nicht tot", rief er, "ich habe noch ein Bullet." Das ist möglicherweise katalanisch und heißt so viel wie: Ich habe noch eine Kugel. Oder, etwas freier übersetzt: Ich habe noch ein Rückspiel. Oder, noch etwas freier übersetzt: Ja, im Rückspiel spielt wahrscheinlich euer Thomas Müller.

Guardiola spricht eine Sprache, die es auf der Welt nur einmal gibt, aber es sollte sich keiner täuschen lassen: Er kriegt alles mit. Manel Estiarte, 54, ehemaliger Wasserball-Olympiasieger und seit Jahren im Hauptberuf Pep-Vertrauter, lässt seinem Chef immer wieder Ausschnitte aus der deutschen Presse übersetzen, und natürlich weiß Pep, wie das Land, das er in ein paar Wochen verlassen wird, gerade tickt.

Das Land schaut nicht nur in gespannter Erwartung auf den besten Verein dieses Landes, der nun gegen Atlético Madrid einen 0:1-Rückstand aufholen muss; das Land schaut auch, was dieser Trainer jetzt wieder macht. Ob er dem Gegner wieder einladend das Zentrum öffnet wie im Halbfinal-Rückspiel im April 2014 gegen Real Madrid (Endstand 0:4); ob er dem Gegner wieder mit einer optimistischen Dreier-Abwehrkette begegnet wie im Mai 2015 dem FC Barcelona (Endstand 0:3); und natürlich vor allem, ob er wieder den weltbesten Müller aus der Startelf schmeißt, wie im Hinspiel bei Atlético (Endstand: 0:1).

Das alles ist die Antwort auf die Frage, die sich viele Menschen, übrigens auch beim FC Bayern angestellte Menschen, zuletzt oft gestellt haben: Warum, my friends, ist Guardiola in Pressekonferenzen mitunter so grummelig und auf Krawall gebürstet? Deshalb - weil er das Gefühl hat, dass alles, was nicht gut läuft, dem Trainer zur Last gelegt wird. Und was gut läuft, hat der FC Bayern geschafft.

Pep Guardiola muss damit leben, dass jetzt die alten Geister wieder spuken. Es ist ja tatsächlich ein entscheidender Teil seiner bisherigen Bayern-Biografie, dass immer dann, wenn es ernst wurde, der Spaß vorbei war. Zweimal in zwei Jahren hat Guardiola seine Elf pfeilgrad am Champions-League-Finale vorbei geführt, wie man in Bayern wahrscheinlich sagen würde, und die Geschichten dieser beiden Halbfinals sind oft erzählt worden.

Vor dem Real-Spiel hat er auf die skeptische Stimmung im Team reagiert, indem er sich im Zuge einer nicht repräsentativen Erhebung quer durch die Elf fragte. Er hat sich dann zu jenem fatalem 4-2-4-System überreden lassen, das allem, was ihm am Fußball heilig war, widersprach. Und in Barcelona hat er versucht, der extremen Verletztensituation im Team mit dem Mut der Verzweiflung zu begegnen. Er hat eine kesse Dreierabwehr berufen und hoch verteidigen lassen, um Messi, Neymar und Suárez möglichst weit vom eigenen Tor weg zu halten.

Ein paar Stunden noch, dann kommt die Aufstellung

Die eine Wahrheit ist, dass Bayern beide Male aus dem Wettbewerb flog. Die andere Wahrheit ist, dass es gegen Real zwei Standardsituationen waren, die das Spiel kippen ließen. In Barcelona hielt ein ersatzgeschwächter FC Bayern bis kurz vor Schluss tapfer durch, mit einer Viererabwehr übrigens, die Guardiola längst wieder angewiesen hatte. Und es weiß ja auch kein Mensch, ob ausgerechnet der zapplig geniale Müller im Hinspiel bei Atlético weniger Ballverluste gehabt hätte als der sonst so mit dem Ball verwandte Thiago.

Pep Guardiola ist ein detailversessener, fantasievoller Trainer, aber er coacht in einer Jens-Jeremies-Stadt, in der sie die Gegner früher meistens auch ohne Details und Fantasie weggehauen haben. Dieser Konflikt macht die nächsten Stunden, Tage und - wenn es gut geht - Wochen so bedeutungsvoll: Sie werden darüber entscheiden, ob Guardiola in der Galerie der großen Bayern-Trainer prominent ausgestellt wird oder ob sie ihn irgendwo zwischen Trapattoni und Ribbeck hängen.

In der öffentlichen Wahrnehmung und auch ein bisschen im eigenen Verein war der Grat selten so schmal wie bei diesem wunderlichen Mann; im Klub und auch außerhalb des Klubs sind die Leute von Guardiolas kreativem Zugang zum Spiel mindestens so fasziniert, wie sie von seiner unnahbaren Art irritiert sind. Gewinnt Guardiola, sind die Bayern stolz, dass der beste Trainer der Welt einer von ihnen ist; gewinnt er nicht, findet man schnell Sätze von Ottmar Hitzfeld, Oliver Kahn oder Mehmet Scholl, in denen das Wort "vercoacht" vorkommt. Vertraute sagen, dass Guardiola auch deshalb das Land verlasse: weil es ihn nerve, sich für eine deutsche Meisterschaft rechtfertigen zu müssen und ausschließlich am Triple gemessen zu werden.

Ein paar Stunden noch, dann kommt die Aufstellung fürs Heimspiel gegen Atlético. Alle, die am Montag mit Guardiola Kontakt hatten, rechnen übrigens damit, dass Thomas Müller von Anfang an spielt.

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Quelle:
SZ vom 03.05.2016
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