Süddeutsche Zeitung

Champions League:Symbolfigur des Dortmunder Aufschwungs

Lesezeit: 3 min

Bisher konnte Emre Can beim BVB die hohen Erwartungen selten erfüllen. Doch nun bringt er seit Wochen die erhoffte Dynamik und Mentalität im zentralen Mittelfeld ein. Gegen den FC Chelsea wird sich zeigen, wie stabil dieser Trend ist.

Von Ulrich Hartmann, Dortmund

Emre Can hat zuletzt viel von sich preisgegeben. In einer Dokumentation beim Sportsender Dazn hat er verraten, dass ihm 2018 zusammen mit einem Tumor die Schilddrüse entfernt wurde und dass er deshalb für den Rest seines Lebens Tabletten nehmen müsse. Einfluss auf sein Fußballspiel hatte das aber nicht, auch nicht auf die durchwachsenen drei Jahre, die er inzwischen bei Borussia Dortmund verbracht hat. "Es war nicht immer alles gut", sagt Can über seine bisherige Zeit beim BVB, "aber ich war auch nicht so schlecht, wie ich manchmal gemacht wurde."

Der 29-Jährige hadert grundsätzlich ein wenig mit seiner mangelnden Akzeptanz im deutschen Fußball. Das geht ihm nahe. Als eines seiner größten sportlichen Ziele nennt der in Frankfurt geborene Sohn türkischer Eltern vielleicht auch deshalb, bei der Heim-Europameisterschaft 2024 wieder im Nationaltrikot für Deutschland zu spielen.

Nach einer mauen ersten Saisonhälfte vor der langen WM-Winterpause ist Can momentan auf einem guten Weg, sich als Symbolfigur eines stabilen Dortmunder Aufschwungs in Szene zu setzen. Bei den jüngsten fünf Siegen des BVB stand er stets in der Startelf und spielte zuletzt vier Mal durch. So konstant hat man ihn in Dortmund bislang noch nie gesehen. Im zentralen defensiven Mittelfeld balanciert er recht zuverlässig das Dortmunder Spiel aus. In der Bundesliga ist sein Team durch die Erfolgsserie bis auf drei Punkte an den Spitzenreiter Bayern München herangerückt. Im DFB-Pokal ist Dortmund - auch durch Cans 50-Meter-Tor vorige Woche in Bochum - ins Viertelfinale eingezogen. Und in der Champions League ist zum Achtelfinal-Hinspiel an diesem Mittwoch (21 Uhr) der FC Chelsea aus London zu Gast. Erst in dieser Partie wird sich zeigen, was der Aufschwung wirklich wert ist.

Vorigen Sommer galt Emre Can in Dortmund noch als Verkaufskandidat. Er blieb, stand aber vor der Winterpause in 15 Liga-Spielen nur drei Mal in der Startelf, sieben Mal wurde er eingewechselt, fünf Mal blieb er komplett außen vor. "Ich bin mit einer Verletzung aus dem Sommerurlaub gekommen und war danach gefühlt die ganze Zeit hintendran", sagte er im Januar. "Ich habe nicht so viel gespielt wie erhofft." Die WM in Katar verfolgte er anschließend nur medial.

Kehl zählt auf: "Überzeugung, Dynamik, Aggressivität - und unbedingter Siegeswille!"

Vor drei Jahren war Can von Juventus Turin nach Dortmund gekommen, weil es beim BVB ein Mentalitätsdefizit gab. Can, der laut eigener Auskunft 2020 auch mit Paris St. Germain und dem FC Barcelona in Kontakt stand, entschied sich nach vier Jahren in Liverpool und eineinhalb Jahren in Turin "für Deutschland". Für Dortmund. Er war bei der Borussia als sogenannter Aggressive Leader eingeplant, doch in diese Rolle schlüpfte er nur selten. Weder unter Trainer Lucien Favre, noch unter Marco Rose konnten Can und der BVB ihr Potenzial abrufen. Seit Ende Januar jedoch eilen die Dortmunder plötzlich und etwas überraschend von Sieg zu Sieg.

Sportdirektor Sebastian Kehl sagt: "Emre war in der Hinserie nicht die Konstante, die er selber sein möchte. Er hat selbst gesagt, den besten Emre Can über einen längeren Zeitraum hat man bei Borussia Dortmund noch nicht gesehen." Doch aktuell sieht Kehl bei Can die ersehnten Eigenschaften: "Überzeugung", "Dynamik", "Aggressivität" - und "unbedingten Siegeswillen". Und Kehl hat einen Wunsch: "Ich würde mich freuen, wenn diese Phase bei Emre jetzt sehr lange anhält und er diese Wichtigkeit für uns beibehält."

Can erlebt in diesen Wochen jene Wertschätzung, die er sich als Fußballer ersehnt. 2013 beim FC Bayern hatte ihm der damals neue Trainer Pep Guardiola signalisiert, dass er nicht viel spielen werde, woraufhin Can als 19-Jähriger zu Bayer Leverkusen wechselte und ein Jahr später weiter zum FC Liverpool. Dort hat er dann in vier Jahren viel gelernt, vom Trainer Jürgen Klopp ebenso wie von einem Aggressive Leader namens Steven Gerrard.

Die BVB-Fans erkennen in Can einen Anführer, der den aufblühenden Spielgestaltern den Rücken freihält

Doch es ist nie immer nur vorwärts gegangen für Can, regelmäßige Rückschläge gehören zu seiner Karriere. 2015 erlitt er mit der deutschen U21 im EM-Halbfinale gegen Portugal eine 0:5-Blamage. 2018 verlor er mit Liverpool das Champions-League-Finale gegen Real Madrid. Und 2021 schied er mit Deutschland bei der EM im Achtelfinale gegen England aus. Can war nie der strahlende Held wie etwa Toni Kroos, der 2018 Deutschlands Fußballer des Jahres wurde, drei Mal Meister mit den Bayern war und fünf Mal Champions-League-Sieger mit Real. Can musste immer kämpfen, so wie schon als Kind in Frankfurts Nordweststadt, einem "Brennpunkt", wie er selber sagt.

Deshalb braucht er vor allem Vertrauen. Er will es spüren, von Trainer Edin Terzic, von den Teamkollegen, vom Publikum. Momentan ist er auf einem ganz guten Weg. Die BVB-Fans erkennen in ihm einen Anführer, der den aufblühenden Spielgestaltern Jude Bellingham und Julian Brandt im defensiven Mittelfeld den Rücken freihält. Und wenn Can so weiterspielt, wird er vielleicht sogar noch mal ein Thema für Bundestrainer Hansi Flick. Der hat Can seit seiner Amtsübernahme noch kein einziges Mal berufen.

Auch deshalb ist das Achtelfinal-Duell mit Chelsea für Can ein Meilenstein. Kann er seine Form bestätigen, dann winken ihm Sieg, Sympathien und Flicks Aufmerksamkeit. Erfolg und Anerkennung, also fast alles, was Can sich wünscht, kann er sich gegen Chelsea erspielen.

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