Süddeutsche Zeitung

Fazit der Saison 2021/22:Die Bundesliga ist wie ein Bausparvertrag

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Ganz oben und ganz unten in der Tabelle ist die Liga viel zu berechenbar. Doch dazwischen gibt es unter den vermeintlichen Mitläufern erstaunliche Wandlungen.

Kommentar von Philipp Selldorf

Wäre die Fußball-Bundesliga ein Pferderennen, wäre das Wettgeschäft mit der Saisonvorhersage für den Buchmacher ruinös. Siegwette, Platzwette, Ita-Wette, Zweierwette, Dreierwette - für jede Einsatzvariante ist das Geschehen in der Liga so berechenbar, dass wenigstens neun von zehn Kunden Gewinn erhalten müssten. Was die Saisonwette betrifft, kann es kaum noch als Glücksspiel bezeichnet werden, auf einen Tipp Geld zu setzen.

Im Sommer 2021 hat ja das ganze Land gewusst, dass im Sommer 2022 der FC Bayern wieder mit einigen Pferdelängen Abstand als Erster ins Ziel kommen, während dahinter wie üblich Borussia Dortmund als Vize einlaufen würde. Die Besetzung von Platz drei und vier stand ebenfalls nahezu fest, fraglich war bloß, wie Bayer Leverkusen und RB Leipzig die Ränge aufteilen würden.

Gemäß der hiesigen Liga-Hierarchie verwandelt sich der Wettschein in einen Bausparvertrag: Er bringt überschaubare, aber verlässliche Rendite. Selbst bei einem Einsatz auf die Vorhersage der beiden Letztplatzierten wäre das Risiko gering gewesen: Die SpVgg Greuther Fürth und Arminia Bielefeld sind exakt die beiden Klubs, von denen der Abstieg zu erwarten war.

Dennoch herrscht unter der Oberfläche der Tabelle Bewegung. Unter den vermeintlichen Mitläufern gibt es interessante Wandlungen: Klubs, die neuerdings ihre Identität und Selbständigkeit entdecken oder die Selbstbestimmung längst zur Lebensgrundlage gemacht haben. Letzteres gilt für Union Berlin und den SC Freiburg, die im Größenvergleich mit altadeligen Klubs wie Eintracht Frankfurt, VfB Stuttgart oder 1. FC Köln immer die designierten Außenseiter waren. Derzeit stehen sie nicht nur sportlich über den höher geborenen Konkurrenten, sondern auch wirtschaftlich. Der SC Freiburg gehört wahrscheinlich zu den ökonomisch gesündesten Fußballklubs Europas, und zwar nicht, weil er wahnsinnig geizig ist, sondern weil er sich mit Sachverstand auf den Wucher-Markt einzulassen weiß.

Der Weg von Freiburg und Union dient anderen als Inspiration

Spieler können hier mittlerweile stattliches Geld verdienen, die Anpassung an professionelle Standards gilt nicht mehr als mutmaßliche Überforderung des Standorts oder gar, wie in den Anfängen als Verein aus der Studentenstadt, als unmoralisch. Auch teure Transfers sind kein Tabu mehr, solange es perspektivisch gute Transfers sind. Bisher hat das Management die selbstgestellten Fortschrittskriterien immer erfüllen können, der Aufstieg in die Europacup-Klasse ist keine Laune der Zeit, sondern das Ergebnis planmäßigen Handelns.

Für die erwähnten alten Klubs stellt die Entwicklung des Sportclubs oder auch des auf seine sehr eigene Art aufstrebenden 1. FC Union eine Herausforderung dar. Hier und da scheint man die Botschaft aber verstanden und in Inspiration verwandelt zu haben - die Rede ist ausdrücklich nicht von einer gewissen alten Dame.

Die Frankfurter Eintracht hat einen Weg für ihren Ehrgeiz gefunden, der zur Hochhausstadt und ihrer charmanten Arroganz passt; der 1. FC Köln hat durch den zugereisten Trainer Steffen Baumgart eine handfeste Lektion Realismus gelernt und ist trotzdem geblieben, was er immer war: enthusiastisch und ein bisschen verrückt. Der VfB Stuttgart hat der Liga in drittletzter Minute nicht nur den dramaturgisch größten Moment beschert, sondern auch vorgemacht, wie im Notfall eine gerade Haltung aussieht.

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