Süddeutsche Zeitung

Fußball ohne Zuschauer:Vorteil: Feinfüße

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Die ersten zwei Bundesliga-Geisterspieltage deuten an, dass Techniker und Künstler besser zurechtkommen als Kämpfer und Arbeiter. Das Ergebnis kann schöner Fußball sein.

Kommentar von Martin Schneider

Am Tag, an dem BVB-Sportdirektor Michael Zorc fast schon beiläufig in ein in Plastikfolie eingepacktes Sky-Mikrofon verkündete, dass Mario Götze keine Zukunft mehr beim BVB haben wird, musste man ein paar Worte zu feinen Fußballern verlieren. Feine Fußballer sind selten, die allermeisten Kicker in der Bundesliga gehören nicht diesem Typ an, sie arbeiten den Sport lieber. Dagegen ist nichts einzuwenden, im Gegenteil, gerade der Deutsche mag solche Fußballer gerne, er identifiziert sich mit ihnen. So ein Zweikämpfer ist ja quasi der Heimwerker unter den Sportlern, ehrlich, praktisch, malochend. Und wer viel läuft, der schwitzt viel, der will auch viel und vermutlich hat er auch noch das Herz am rechten Fleck, also so ungefähr unter dem Vereinswappen. Wenn Fans im Stadion merken, dass sich jemand "zerreißt", schenken sie ihm Liebe, weil sie ihre eigene Leidenschaft auf dem Rasen manifestiert sehen.

Feine Fußballer haben es da schwerer. Zum Laufen und Kämpfen hat jeder einen Bezug, zum perfekten Außenristpass nur diejenigen, die es auf dem Bolzplatz mal selbst versucht haben, und vermutlich von ihren Mitspielern zu hören bekamen, sie sollen lieber einen "klaren Ball" spielen. Fangesänge handeln meistens vom "kämpfen", selten vom "zaubern" oder gar nur vom "spielen". Wer Fußball auch nur ein bisschen als Kunst begreift, wird beäugt, Mesut Özil musste das zum Beispiel erfahren, lange bevor er irgendwem irgendein Trikot überreichte.

Gerade beäugen in deutschen Stadien aber nur 239 Personen die Spieler, mehr lässt das berühmte Hygienekonzept nicht zu. Es pusht also keiner die Spieler, es bejubelt niemand die Spieler - es pfeift aber auch niemand die Spieler aus, wenn etwas schiefgeht. Es ist natürlich Quatsch, wenn jetzt jemand behaupten würde, dass Geisterspiele in irgendeinem Aspekt besser sein sollten als Spiele mit Zuschauern. Aber es ist vielleicht kein Quatsch, wenn man sagt, dass Techniker mit der Situation besser zurechtkommen als Arbeiter.

Am auffälligsten ist die Situation bei Borussia Dortmund

Vertreter dieser These war am vergangenen Samstag zum Beispiel der alemannische Schaffer Christian Streich ("Müsse marschiere wie die Salzmänner"), der glaubt, dass technisch bessere Teams nicht so sehr auf die Unterstützung der Zuschauer angewiesen seien und deswegen aktuell im Vorteil.

Zwar nimmt Streich gerne jede Gelegenheit wahr, um seine Mannschaft nicht zum Favoriten zu machen, aber feststeht, dass die technisch starken Teams Dortmund, Bayern und Leverkusen alle ihre sechs Geisterspiele gewonnen haben - und kein Sieg war wirklich gefährdet. Der statistische Beweis ist angreifbar, weil alle drei Teams schon in der Rückrunde mit Zuschauern dominierten - aber, dass zum Beispiel Leverkusen die "Auswärtsspiele" in Bremen und Gladbach locker nach Hause fuhr und die eher feinfüßigen Kai Havertz und Kerem Demirbay dabei an sechs von sieben Toren direkt beteiligt waren, spricht dann wieder eher dafür. Auch die Tatsache, dass es bei bislang 15 Geisterspielen nach der Pause nur drei "Heimsiege" gab, zwei davon von Dortmund und Bayern, deutete auf eine leichte Veränderung der Ausgangslage hin.

Am auffälligsten ist die Situation aber bei Borussia Dortmund. Dort hat Mario Götze ja keine Zukunft mehr, weil im Kader einfach zu viele Techniker sind, die besser in Form sind als er. Allein Julian Brandt hat gegen Schalke und Wolfsburg ein paar Pässe zelebriert, bei denen man sich schon fragen kann, ob er sich das auch bei vollem Stadion getraut hätte. Wer im Revierderby einen Hacken-Überkopfpass zum Gegner spielt, riskiert Pfiffe. Überhaupt wird der sogenannte Favre-Fußball ja von Kritikern oder Spöttern gern als Labor-Fußball bezeichnet, der im Kopf des Schweizers oder halt im Reagenzglas funktioniert - nur eben nicht in der Realität. Stichwort: Mentalitätsdebatte.

Nun gibt es so etwas wie Laborbedingungen - und die favreschen Passkombinationen laufen weiter in beeindruckender Präzision übers Feld. Wer sich den BVB so anguckt, der hat den Eindruck, dass das Team mehr als andere Mannschaften in einem Flow ist. Ob sie das mit Zuschauern auch geschafft hätten - das kann niemals jemand beweisen. Beweisen kann man nach zwei Spielen nur, dass leere Ränge dem BVB-Spiel nicht besonders schaden. Und das obwohl in beiden Spielen die als entscheidend bezeichneten Stabilisatoren Axel Witsel und Emre Can nicht in der Startelf standen.

Kein Spieler wird offen zugeben, dass er sich so besser konzentrieren kann - man würde es ihm sofort so auslegen, dass ihm die Fans nicht wichtig wären. Aber Lucien Favre sagte am Samstag zumindest: "Als positiv empfinde ich, dass die Spieler mich als Trainer im Stadion jetzt besser hören können. Normalerweise verstehen mich immer nur meine Außenspieler." Also gibts vielleicht auch einen Vorteil für Trainer, die gern ins Spiel reinreden. Oder die mehr als eine taktische Variante haben.

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SZ vom 24.05.2020
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